: Kein Ende in Sicht
Über Bertrand Taverniers umstrittenen Anti-Drogen-Film „Auf offener Straße“ ■ Von Christiane Peitz
Wenn die Schlacht geschlagen ist und die Liebenden sich gefunden haben, wenn die Helden tot sind oder glücklich vereint, setzt die Kamera sich in Bewegung und gibt ihren Abschied. Blickt noch einmal zurück, aus der Ferne schon oder von hoch oben. Der Ausschnitt weicht der Totale — ein Ritardando. So macht sich das Kino, bigger than life, am Ende klein und wird in die Gesamtheit aller Erscheinungen zurückgenommen. Licht an im Saal, der Zuschauer reibt sich die Augen.
In Bertrand Taverniers neuem Film „Auf offener Straße“ fehlt die Schlußeinstellung. Kein Abschied, keine Entfernung, kein Ende in Sicht. Lulu, der Drogenfahnder, sitzt im Wagen und schaut zum Rückfenster hinaus, so wie er es schon anfangs getan hatte und wieder und wieder, auf der Suche nach Dealern, beim Beschatten der Drogenszene. Die immer gleichen Straßenecken, Kneipen, Hauseingänge, Abbruchhäuser. Mal im Schrittempo, mal erhöhte Geschwindigkeit. Die immer gleiche flüchtige Perspektive, ermüdend, zermürbend, ohne Aussicht auf Erfolg. Hastige Schnitte, nie ruht der Blick. Nach 145 Minuten ist man selber entnervt und möchte nur noch, daß es aufhört.
Aber Bertrand Tavernier erzählt von einer Schlacht, die nicht geschlagen werden kann. Nach einem Jahr vergeblicher Suche findet Lulu Cecile zufällig, auf offener Straße, und hat sie gleich wieder verloren. „Die Adresse“, sagt Lulu in seinem letzten Filmsatz, „ich habe vergessen, sie nach der Adresse zu fragen.“ Cecile ist drogensüchtig, Prostituierte, HIV-positiv. Für Lulu hat sie lange als Spitzel gearbeitet.
Die immer gleiche Perspektive: Drogenfahnder bei der Arbeit. Tavernier zeigt nur die eine Seite. Wie sich ein als Lieferwagen getarntes Polizeiauto bei der verdeckten Observation aus Sicht der Dealer ausnimmt, welches Bild eine Razzia in der Metro für Passanten ergibt oder für Süchtige, die dringend Nachschub brauchen, all das spart Tavernier aus. Auch die Ursachen für den Umstand, daß die meisten Dealer in Paris Schwarze oder Araber sind. Er zeigt sie nur: Afrikaner mit Rasta- Locken, Araber mit gefälschten Ausweisen. Deshalb ist sein Film, der im Original „L.627“ heißt — nach dem französischen Drogengesetz Loi 627 —, in Frankreich umstritten. Dem Regisseur wird Rassismus vorgeworfen und ein gewaltiger Rechtsruck: erst sein Dokumentarfilm über die französischen Veteranen des Algerienkriegs („La Guerre son nom“, 1991) und jetzt ein quasi dokumentarischer Spielfilm, der Partei ergreift für die Sache der Polizei. Und wirklich: In Interviews oder bei der Premiere auf den Filmfestspielen in Venedig plädierte Tavernier für die Aufrüstung der Drogenfahnder, prangerte die Politiker an, die die Streetworker im Stich lassen, ihnen bürokratische Hindernisse in den Weg legen und sie mit schlechten Autos und zu wenig Personal ausstatten. Kritik äußerte aber auch die Gegenseite: Innenminister Paul Quiles bezichtigte Tavernier einer verzerrten Darstellung des Kampfes gegen die Drogen. Er karikiere die Polizei; so schlimm sei die auch wieder nicht: Im Film spielen sie „Risiko“ im Dienst, verprügeln die gefaßten Dealer, klopfen rassistische Sprüche und ärgern die Kollegen mit Wasserpistole und Tränengas. Taverniers Replik, gegenüber der Kritik von links wie von rechts: Er zeige die Wahrheit, weiter nichts. Das Drehbuch hat er zusammen mit Michel Alexandre geschrieben, einem Kripobeamten, seit 15 Jahren im Außendienst.
Die Wahrheit: der Alltag. Das Polzeirevier mit den dreckigen, grauen Fluren, Stimmengewirr, kaputte Kaffeeautomaten, ewig klingelnde Telefone. Die Telefonistin hebt grundsätzlich erst nach dem siebten oder achten Mal ab. Antiquierte Schreibmaschinen, Papierkrieg, sinnlose bürokratische Schikanen. Die Drogenabteilung sitzt in einer Containerbaracke, der Chef macht einen Strich für jeden festgenommenen Dealer; in der Statistik spielt es keine Rolle, ob 20 Gramm oder ein Kilo Heroin dingfest gemacht werden konnten. Der Wagen muß in die Werkstatt, ein Ersatzauto gibt es nicht, und immer fehlt das Durchschlagpapier. Jemand liefert Blumen an — ein Mißverständnis. „Die müssen fürs Innenministerium sein“, feixen die Flics. Die Truppe — Lulu, der Chef Dodo, Antoine, Vincent, Manu und Marie, die „femme flic“ — kann durch den Hinweis eines Spitzels zwei Dealer fassen; nach wenigen Tagen sind sie wieder auf freiem Fuß, wegen Beweismangels. Die Dealer rächen den Verrat und bearbeiten den Informanten mit Rasierklingen. Er überlebt, aber die Arbeit der Truppe war umsonst. Sie fassen einen anderen, der verschluckt den Stoff. Manu muß ihm so lang in den Bauch treten, bis er ihn auskotzt. Razzien in billigen Hotels, Abrißgegenden, in der U-Bahn. Eine Süchtige mit Überdosis, fast tot. Dodo, der Zyniker, klaut eine Suppentüte aus der verkommenen Bude — er sammelt so etwas.
Nächtelanges Warten im Wagen. Lulu filmt Straßenszenen, wegen der Beweise. Er wollte mal Film studieren, aber er fiel durch die Aufnahmeprüfung — ein biographisches Detail aus der Vita des Drehbuchautors Alexandre. Privat bessert Lulu sein Gehalt auf, indem er Hochzeiten auf Video dokumentiert. Seiner Frau soll er versprechen, daß sie Paris verlassen, wenn die Tochter Karine zwölf Jahre alt ist. Spätestens dann wird sie ihren ersten Dealer treffen.
Die Kamera fährt Streife. An Baustellen entlang, Bretterverschlägen, auf dem Straßenstrich. Eine Welt im Halbdunkel. Aber sie hat nichts Mystisches. Ganz am Anfang zeigt Tavernier, kurz, das Klischee: finstere Gestalten mit übergroßen Schatten, die sich lautlos durch die Nacht bewegen. Gangstermilieu, wie in den klassichen Cop-Filmen. Die restlichen 144 Minuten setzt sich Tavernier davon ab. Die Gewalt dokumentiert er nüchtern, kalt, lustlos. Eine Notwendigkeit, manchmal auch pure Aggressionsabfuhr der Beamten. Der Film beschönigt nicht, rechtfertigt nicht, dafür ist er zu nah dran: kein Anblick für Voyeuristen.
Tavernier hat seinem Film eine Widmung vorangestellt: „Für Nils“. Nils, sein Sohn, war acht Jahre lang drogensüchtig, jetzt ist er clean, von Beruf Schauspieler. Er spielt die Rolle von Lulus Kollegen Vincent, den sensibelsten in der Baracke. Als Lulu seinen ersten Wutanfall an dem arabischen Dealer ausläßt, versteht Vincent alias Nils die Welt nicht mehr. Man spürt Taverniers eigene Wut. Am liebsten möchte er sie alle lebenslang hinter Gitter sperren.
Mitterrand, Giscard, Fabius, Quiles — Frankreichs Regierung wird lautstark beschimpft. „Auf offener Straße“ prangert die Korruptheit eines Apparats an, der zwar die kleinen Straßendealer verfolgt, aber den internationalen Handel stillschweigend duldet. Am Beispiel Ceciles wird der Teufelskreis Sucht, Beschaffungskriminalität, Prostitution thematisiert. Wenn Süchtige an gestrecktem Stoff oder an Gips statt Heroin krepieren, ist das nicht strafbar: Der Verkauf von Gips fällt nicht unter das Drogengesetz. Aber daß ein Großteil des sogenannten Drogenproblems mit der Illegalität selbst von Haschischverkauf zusammenhängt, reflektiert Tavernier nicht. Auch nicht, welche Zwangslagen einen Einwanderer zum Dealer machen und ein junges Mädchen zur Süchtigen. Für ihn ist es ausschließlich eine Frage von Polizei und Gericht.
Dennoch: Man muß den Film gegen die Absichten seines Regisseurs verteidigen. Taverniers Beschränkung auf die Polizeiperspektive bringt zugleich die Grenzen, wenn nicht die Sinnlosigkeit der ausschließlich juristischen Ahndung ans Licht. Die Gegenseite bleibt anonym. „Es sind keine Araber, es sind Dealer“, kontert Lulu einmal den Rassismus seines Kollegen und irrt doch in seinem Gerechtigkeitssinn. Denn es gibt einen Zusammenhang, der soziale und politische Ursachen hat. Unfreiwillig legt Tavernier die Ignoranz der Fahnder bloß: Für sie sind die anderen Verbrecher, ohne Geschichte, ohne Gesicht.
„Auf offener Straße“ plädiert für besseres Equipment und straft diese Forderung gleichzeitig Lügen. Drei Autos mehr verhindern keine Überdosis. „L. 627“ macht Reklame für die konsequente Anwendung des Gesetzes und ahnt doch, wenn auch unbewußt, daß es Gesetze gibt, die geändert werden müssen. Indem er nur die Symptome zeigt, verrät er die Krankheit. „Wir kommen immer zu spät“, sagt Lulus Kollege.
Lulu (Didier Besaze) ist der Gütige aus der Baracke. Dunkler Lockenschopf, kleine, warme Augen hinter Brillengläsern. Als väterlicher Freund sorgt er sich um Cecile, besucht die Mutter im Altersheim und wird melancholisch, als seine Sisyphusarbeit zur persönlichen Krise führt. Cecile zu Lulu: „Du hast keine Freunde, du hast nur Spitzel.“ Lulu zu seiner Frau: „Ich fühle mich so dreckig.“ Brutal wird er nur, wenn es moralisch gerechtfertigt ist; seine Informanten, meist Frauen, lieben ihn. Küßchen hier, Umarmung da — natürlich geht er mit keiner ins Bett. Integer, witzig, unfehlbar, immer im Dienst: der gute Mensch vom Drogendezernat. Von wegen Antiheld. Die Schwäche des Films liegt in der Stärke seiner Hauptfigur. Hätte Tavernier den Zyniker Dodo, den gleichgültigen Manu, den ratlosen Vincent, die coole Marie in den Mittelpunkt gestellt— er wäre glaubwürdiger. So aber trägt seine nüchterne Studie märchenhafte Züge: Sie will uns glauben machen, das Drogenproblem ließe sich einfacher lösen, wenn es mehr aufrechte Beamte vom Kaliber Lulus gäbe. Mehr Diensteifer— weniger Drogentote. Taverniers Verzicht auf jegliche künstliche Außenbeleuchtung, die überlange Zermürbungstaktik läßt sich gegen die idealistische Zeichnung des Filmhelden nur schwer verteidigen. Das Ende ohne Aussicht kann die Absicht des Regisseurs kaum noch unterlaufen.
Bertrand Tavernier: „Auf offener Straße“. Drehbuch: Tavernier, Michel Alexandre. Kamera: Alain Choquart. Mit Didier Bezace, Charlotte Kady, Jean Paul Comart, Nils Tavernier. Frankreich 1992, 35mm, 145Min.
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