Vom Mauerblümchen zur Einheitsdiva

■ Der Stadtstaat Hamburg scheffelt Vereinigungsgewinne wie keine andere Metropole. Die Profiteure haben heute allen Grund, die Sektkorken knallen zu lassen: Hanseatische Kauf-, Kirchen- und Medienleute...

. Die Profiteure haben heute allen Grund, die Sektkorken knallen zu lassen: Hanseatische Kauf-, Kirchen- und Medienleute haben den Osten fest im Sack. Und keine Angst vor der Hauptstadt Berlin.

Der Mann steht halb verborgen im Eingangsportal des Alsterhauses Ecke Poststraße/Große Bleichen. In der rechten Hand läßt er zwei schmutzige Plastikbälle kreiseln, mit der Linken schiebt er die fettige Mundharmonika unbeholfen durch sein unrasiertes Gesicht. Ein verstümmeltes „Muß i denn ...“ quält sich aus dem Blech. Den Kopf hält er leicht nach unten geneigt, vermeidet jeden Blickkontakt. Ein unbeholfenes Pappschild bittet um Spenden für einen, der nicht mehr arbeiten kann. Die HamburgerInnen schieben sich achtlos an ihm vorbei. Boomtown Hamburg,Frühherbst 1992.

Nicht weniger typisch die Szenerie nur wenige Minuten später und einige Etagen höher: Die Thüringer Landes-Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft (TLW) bittet am 25.September zu Sekt, Selters und Büffet in die Hansekuppel, jenen Glitzer- Penthouse-Saal über der Wohlstandsoase Hanseviertel, die Hamburgs neues Wir-sind-wieder-wer- Gefühl so prächtig versinnbildlicht. Die Bettler hier oben tragen Anzug, statt Pappschild gibt es einen netten Moderator von der FAZ, und die schmutzigen Plastikbälle ersetzt ein freundliches Video über das grüne Thüringen. Wer hier spendet, hat die freie Auswahl: 200 der grünsten und saftigsten Wiesen Thüringens warten mit Investitionszuschüssen und Sonderabschreibungen auf den Investor aus dem Westen. Sie wollten schon immer mal ein Landschaftsschutzgebiet plattmachen? Kein Problem! Der Standort-Atlas Thüringen, ein prima Landschafts-Ausverkaufs-Katalog, bietet Grund und Boden vom Feinsten.

Nur wenige Hamburger Pfeffersäcke haben sich an diesem milden Herbstabend auf die Bettelveranstaltung in der Hansekuppel verirrt. Gelangweilt blättern sie sich durchs grüne Schnäppchen-Thüringen. Auch die Sonderangebote des Erfurter Treuhandchefs Künkele lassen sie kalt. 700 Firmen hat der mitgebracht. Zum Beispiel die Maxim-Gorki-Druck in Altenburg, prima Maschinenpark (alles jünger als drei Jahre), wachsender Umsatz, sinkende Beschäftigtenzahl. Vielleicht schreckt die Spezialität der Druckerei: „Texterfassung für russische Sprache“? Wie auch immer: Was Künkele da sonst an holzverarbeitender und Textilindustrie oder an Konserven aus dem Klostergarten anpreist, löst Gelächter im Saal aus: „Is doch alles Schrott!“

Ein deprimierender Abend für die rührige Ausverkaufs-Crew aus Thüringen. Sie hat zwar inzwischen das westliche Marketing-Einmaleins bis zum Erbrechen geübt, beherrscht die Kombination aus Keep-Smiling, kiloschweren Hochglanz-Prospekten, diskreten Gesprächsangeboten und verlockenden Zuschußversprechen souverän, wird aber trotzdem nichts los. Der Bettler im Alsterhaus hatte wenigstens ein paar Groschen in seiner Plastikschüssel ...

Es ist unglaublich, mit welcher Nonchalance Hamburg heute seinen neureichen Hochmut pflegt, die Soap-Opera „Vom verdorrten Mauerblümchen zur arroganten Einheitsdiva“ aufführt. Noch Mitte der 80er Jahre buhlte der damalige Stadtchef Klaus von Dohnanyi ganz im Stil der TLW weltweit um jeden klitzekleinen Investor. In der Senatskanzlei wurde sogar allen Ernstes daran gearbeitet, Hamburgs häßliche Einfallsstraßen aus dem Süden mit gewaltigen Stelltafeln und Wandmalereien aufzuhübschen. Potemkin läßt grüßen. Dohnanyi hatte dafür einen eigenen Haushaltstitel eingerichtet — den sogenannten Standorttopf.

Heute dagegen läßt Hamburg Handelsvertretungen ausschwärmen wie einst die italienischen Stadtrepubliken während der Renaissance: Die Hamburgische Landesbank darf im nahen deutschen Osten wildern, die Hamburgische Wirtschaftsförderungsgesellschaft (HWL) und die Handelskammer streiten sich um das Vorrecht der Ostkolonisation. Die frisch erwachte Hamburger Geostrategie kennt keine falsche Scham. Elbe und Moldau gelten ebenso als Hamburger Wirtschaftsgebiet wie die

Hamburg als natürlicher Dreh- und Angelpunkt

Ostsee, das Baltikum, das nördliche Polen und St.Petersburg. Die in den letzten 20 Jahren wirtschaftlich dominierende europäische Boomzone, die sogenannte Euro- Banane von Mailand über München, Frankfurt, Paris, Rotterdam bis London, sie wird, da sind sich die hiesigen herrschenden Kreise sicher, durch eine neue Nord-Südost-Banane Oslo/Kopenhagen/ Hamburg/Ostsee/Elbe/Prag ergänzt (oder gar ersetzt), deren natürlicher Dreh- und Angelpunkt Hamburg ist. Die Metapher von der Euro-Banane wird an den Hamburger Austern-Stehimbissen mit besonderem Vergnügen goutiert: Die Banane war das erste Produkt nach der Vernichtung des eisernen Vorhangs, mit dem Hamburg sein künftiges Weltwirtschaftsreich auch real absteckte. Der Bananen-Boom über den Hamburger Hafen demonstrierte, vom Altenheim in St.Petersburg bis zum amerikanisierten Eis-Café in Prag (Banana-Split), wo Bartel künftig den Most holt.

Noch im Jahr 1990 war der hanseatische Einheitsrausch mit ein paar untergründigen Sorgen marmoriert: Lag da nicht im grundlosen märkischen Sand das frisch wachgeküßte preußische Dornröschen Berlin — eine drohende Rivalin für die neu erblühende Hammonia? Man suchte sich zu beruhigen: War nicht der Kuchen groß genug für beide? Gab es nicht schon unter Wilhelm, Weimar und Adolf eine gute ökonomische Arbeitsteilung zwischen den beiden Metropolen? Aber die Medien, die Werbung, die Industrie, die Verwaltung, der Osthandel — so die Pessimisten —, diese Hamburger Trümpfe könnten schon bald von Berlin ausgestochen werden.

Inzwischen sind die Sorgen diabolischem Gelächter gewichen. Berlin liegt am Boden. Sicher, auf lange Sicht darf man die neue Hauptstadt nicht unterschätzen, aus den Startlöchern ist sie jedoch noch immer nicht herausgekommen. Im Gegenteil: Angewidert wenden sich einige Medien- und Werbeunternehmen inzwischen wieder von Berlin ab. Das Chaos des Ostens schlägt über der armen Zwitterhauptstadt zusammen. Sogar die Westberliner Industrie, nach Jahren unter der Subventionsschutzglocke, steckt im Mahlstrom des Zusammenbruchs. Nein, derzeit ist Berlin keine Gefahr. Man darf sogar Mitleid zeigen.

Annexionen auf die elegante Tour

Derweil schafft Hamburg Fakten. Auf die ganz elegante Tour wurde Mecklenburg-Vorpommern annektiert, Berlin vom Meer abgeschnitten: Der NDR eroberte die mediale Lufthoheit, Norddeutschlands Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Wirtschaftshoheit — und jetzt wird Hamburg sogar katholisches Bistum der armen Bauern und Werftarbeitslosen. Hamburgs Wirtschaftsbataillone stehen in Dresden und Prag, das Baltikum und St.Petersburg sind genommen.

„Wir sind heute die einzigen wirklichen Gewinner der Einheit“, jubelte jüngst der Berater eines der führenden Hamburger Wirtschaftskapitäne in kleiner Runde. Hamburgs Wirtschaftsdaten sind trotz erster Rezessionsschatten noch immer vom Feinsten, die kleine Konjunkturdämmerung kommt manchem gerade recht: Hamburger fürchten konjunkturelle Überhitzung, einen allzu offenkundigen Boom.

Worin liegen aber nun die tieferen Ursachen für Hamburgs heutige Einheits-Sonderrolle? Einen kleinen Hinweis liefert eine weitsichtige Serie der taz hamburg aus dem Jahr 1982. Eine innerdeutsche Grenzöffnung zur ökonomischen Wiedervereinigung wurde da visioniert, wie sie fast genau neun Jahre später Wirklichkeit wurde: Am Tag vor der wirtschaftlichen Einheit stehen Lkw-Sattelschlepper bei Gudow mit deutschen Konsumkatalogen Schlange, um bei Grenzöffnung sofort in den Endkampf um die Marktanteile zu starten.

Genau nach diesem Muster funktionierte 1990 der reale Start in die Einheit. Der Otto-Konzern hatte sogar schon in den ersten Perestroika-Jahren in Rußland vorausschauende Werbung betrieben. Die Einheit begann als Konsumeinheit. Bis heute blieb der Versandhauskatalog auf dem Küchentisch das wichtigste Bindeglied zwischen Ost und West. Hamburg hatte den unverhofften Vorteil, den Wahnsinn des 1:1-Umtauschs in einer Konsumlawine ohnegleichen abwickeln zu dürfen. Die Gewinnexplosion beim Hamburger Otto-Konzern und die billigen PackerInnen aus Mecklenburg-Vorpommern, die täglich zu Otto pendeln, sie stehen stellvertretend für die Methode des Hamburger Einheitsgewinnlertums.

Die Profiteure: Makler, Berater, Mafiosi...

Mit Dienstleistungen, Werbung, Consulting-Unternehmen und Handel zockt Hamburg im Osten ab, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Hamburgs vornehm-moderne Absahne kommt ohne die chaotischen industriepolitischen Verwicklungen aus. Hamburgs Profiteure sind im Osten fast immer auf der sicheren Seite — als Makler, Türöffner, Berater, Händler. Diese Hamburger Sonderrolle hilft auch bei Hamburgs zweitem Boom- Bein: Hamburg gilt in internationalen Anlegerkreisen als feines sauberes Einfallstor in den Osten. Hier sind die Immobilien billiger und krisensicherer als in Berlin, Leipzig oder Dresden, die wirtschaftlichen Ostkontake aber genausogut, oft sogar besser. Umgekehrt profiliert sich Hamburg für die bitterarmen Ostgebiete als verheißungsvolles und verständnisvolles Tor zum Weltmarkt. In der Tat, russische Mafiosi und polnische Waffenschieber sind ebenso wie saubere Jungunternehmer aus Prag und Riga gut beraten, den Hamburger Weg einzuschlagen. Die Strategie des Rathauses, sich mit einer klammheimlichen eigenen Außenpolitik wirtschaftspolitisch im Osten zu engagieren, ist bislang voll aufgegangen. Die uralte Hamburger Maxime „Herrsche durch Handeln“ — sie trägt heute goldene Früchte. Der echte Hanseat genießt und schweigt.

Nur einen störte am Bettelabend in der Hansekuppel dann doch etwas ganz gehörig. Robert Vogel, Hamburgs FDP- und Immobilienchef, wunderte sich über die Milliarden, die wir in den Osten hinüberschaufeln: „Und hört man mal ein Danke?“ Betretenes Schweigen bei der so nett gekleideten thüringischen Bettlerschar. Unser Tip: Vogel sollte es mal mit einem Heiermann beim Bettler vorm Alsterhaus versuchen. Vielleicht ist der ja dankbarer als die abgezockten Ossis?! Klarer noch bringt die alte Hamburger Kaufmannsweisheit es auf den Punkt: „Nehmen ist schwerer denn geben.“ An dieser einträglichen Bürde leiden Hamburgs obere Kreise schließlich schon seit Jahrhunderten. Seit dem 3.Oktober1990 heftiger als je zuvor. Florian Marten