: Planspiele
■ betr.: "Sind die Ausländer faul?", taz vom 25.9.92
betr.: »Sind die Ausländer faul?«, taz vom 25.9. 92
Der Artikel, in dem es um die schulische Arbeit gegen Fremdenfeindlichkeit in Ost-Berlin geht, hat unsere Schlußaussage negativ verkürzt. Es ist im Sinne der Sache wichtig, das richtigzustellen: [...]
Der Punkt, warum das Projekt letztlich konstruktiv verlief — auch wenn es immer wieder »Rückfälle« in Beschimpfungen und Drohungen zwischen den beiden Gruppen gab — und das vermißte ich an dem Artikel — war der Vorrang, den wir der Beziehungsebene vor der Sachebene gaben, das heißt, erst ein kommunikatives Klima schaffen, dann zum Thema arbeiten. Das sieht so aus, daß wir in solchen Situationen sehr straff, entschieden und freundlich argumentierten und moderierten.
Beispiel: Der Anführer der rechten Gruppe, dem die anderen absolut gehorchten, zu uns: »Sie glauben doch nicht, daß wir auf Ihre albernen Kindergartenspielchen reinfallen, mit denen Sie unsere Einstellung zu Ausländern ändern wollen, sparen Sie sich die Mühe!« Wir: »Wer von euch weiß überhaupt, was ein Planspiel ist?« Er: »Ein Kinderspiel, was denn sonst!« Wir: »Keineswegs, alle Methoden, die die Realität simulieren, gleich in welchem Arbeitsbereich, Industrie, Landwirtschaft, Regierung, Verwaltung, Militär sind Planspiele. Fällt euch eins ein, was Ihr kennt?« »Scheiße.« »Schon mal was von Manöver gehört?« (Alle horchen interessiert auf) »Das sind Planspiele.« Er: »Aha, wir sollen jetzt ein Manöver gegen Ausländerhasser machen.« Wir: »Quatsch, dabei geht es darum, sich in die Situation anderer Parteien oder Bevölkerungsgruppen zu versetzen, um zu erfahren, wie die sich in bestimmten Situationen verhalten. Zum Beispiel wird das Wählerverhalten auch so erforscht.« So geht es weiter, bis unvermittelt seine Frage kommt:
»Und was wären wir in diesem Planspiel?« — »Euch traf die Gruppe der Bewohner, die dafür kämpfen wollen, daß die Deutschen nicht rausgeschmissen werden.« »Dann bin ich der Präsident.« »Der ist in der Regierungsgruppe, aber ihr könnt euch ja einigen, welche Personen in dieser Gruppe ihr sein wollt, da können auch Prominente drin sein.« Es begann intensive und motivierte Mitarbeit.
In der Auswertungsrunde nach dem Planspiel geht es darum, mögliche Parallelen zwischen der simulierten Situation und der eigenen Realität herauszufinden, zu diskutieren, die eigenen Einstellungen und Haltungen bewußt zu machen und daraufhin gegebenenfalls das eigene Verhalten zu modifizieren. Dabei gerieten sich die beiden Gruppen zunächst wieder in die Haare.
Damit endet der Artikel. Das war aber nicht das Ende. Der »Rückfall« lag an der inadäquaten Moderation des Lehrers, der die Schüler mit Appellen »Kinderchen, vertragt euch doch bitte« zu beruhigen versuchte. Darauf griffen wir wieder mit der Autorität der »demokratischen Geschäftsordnung« ein, die wir eisern und freundlich durchsetzten, was die Lage sofort beruhigte, jeder kam zum Zuge und es gab eine »Leitung« der Situation, die alle anerkannten.
Inhaltlich kam es aber auch noch zu Nachdenklichkeit und Besinnung. Als sich die Diskussion um die Ausländerfrage in der Bundesrepublik zwischen den Extremen der Zuschreibung der Sündenbockfunktion an die ausländischen Mitbürger bei den »Rechten« und deren Idealisierung auf der anderen Seite zuspitzte, meldeten wir uns zu Wort und gaben folgendes persönliches Statement ab:
»Wir haben ja zwei Tage mit der Gruppe X (rechte) gearbeitet und müssen sagen, daß wir persönlich mit der Gruppe eine ganze Reihe von schwerwiegenden Kritikpunkten an der augenblicklichen Asylpolitik und -praxis der Regierung und auch deren allgemeine Sorgen über die Entwicklung von Armut und den Völkerabwanderungen in der Welt teilen. Auch hier in der Gesamtgruppe wird Übereinstimmung dazu deutlich. Wir halten es für wichtig, daß das nicht untergeht.
Wir haben aber auch ganz klar gesagt, daß die Schlüsse, die die Gruppe X und wir daraus ziehen, gegensätzlich sind. Auf der anderen Seite finden wir es aber auch sehr problematisch, aus Solidarität den ausländischen Mitbürgern gegenüber diese zu idealisieren und die ausländerfeindlichen Gruppen für alles verantwortlich zu machen. Laßt uns jetzt da ganz genau und realistisch weiterdiskutieren...«
Das war der einzige Augenblick in zwei Tagen, an denen ich den Führer der »Rechten« schnell und scheu, aber dankbar lächeln sah. Plötzlich sah er wie ein Jugendlicher aus. [...] Danach ging die Diskussion ruhig zu Ende.
Wenn das jetzt im Unterricht weiter so gehandhabt würde, daß auf der Beziehungsebene die Voraussetzungen über die gegenseitige persönliche Akzeptanz geschaffen würden, bevor die Sache thematisiert würde, dann gäbe es auch eine allmähliche Vertiefung dieser Ergebnisse, dann wären sie keine Eintagsfliegen, wie es nach dem Artikel zu sein schien. [...] Inge Marcus, Berlin
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