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Der Schatten der Zivilisation

Robert Pogue Harrison: „Wälder — Ursprung und Spiegel der Kultur“  ■ Von Mathias Bröckers

„Die Ordnung der menschlichen Dinge schritt so vorwärts: zunächst gab es die Wälder, dann die Hütten, darauf die Dörfer, später die Städte und schließlich die Akademien.“ Dieser Satz aus der „Neuen Wissenschaft“ des Giambattista Vico ist Motto und immer wiederkehrendes Motiv einer Untersuchung, die der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Robert Pogue Harrison vorgelegt hat: „Wälder — Ursprung und Spiegel der Kultur“. „Die Akademien“, das waren für den neapolitanischen Geschichtsphilosophen Vico die aufstrebende cartesianische Wissenschaftshierarchie und ihre Inthronisierung der menschlichen Vernunft als Maß aller Dinge. In der Geschichte konnte Vico keinen linearen Fortschritt, sondern nur ein zyklisches Werden und Vergehen entdecken, der Aufstieg aus tierischer Barbarei zum Humanismus endete stets in der „Barbarei der Reflexion“: Korruption, Chaos, Zusammenbruch — keinerlei Anlaß für optimistischen Glauben an die kritische Vernunft. „Die Natur der Völker ist zunächst roh, dann streng, darauf gütig, später zart, schließlich zügellos.“ Diesen Zyklus demonstrierte Vico vor allem anhand der Geschichte Griechenlands und des Römischen Reichs, deren Zerfall er mit dem Verlust der „poetischen Weisheit“ einhergehen sah — jener Einheit von Philosophie und Wissen, Religion und Kultur, Poesie und Naturerfahrung, die Vico zur Basis seiner „neuen Wissenschaft“ machte und in den archaischen Mythen und Sagen zu rekonstruieren versuchte. Am Anfang der menschlichen Ordnung stand die Lichtung im Wald. Der Ackerbau setzt sich gegen den Wald durch, der Prozeß der Zivilisation ist eine Geschichte der Entwaldung. Und wenn ein Zyklus zu Ende geht und die Völker „es sich in bestialischer Art zur Gewohnheit gemacht haben, an nichts anderes zu denken, als jeder einzelne an seine persönlichen Vorteile“, dann machen sie, „mit erbittertsten Parteienkämpfen und verzweifelten Bürgerkriegen die Städte zu Wäldern“. Und die Wälder werden wieder zur „Zufluchtsstätte der Menschen“. Hatte Vico, an der Schwelle des 18.Jahrhunderts, den Dschungel der postmodernen Metropolen im Auge? Auch wenn er, am Beispiel des heutigen Los Angeles etwa, alle Anzeichen des gleichsam archetypischen Zyklus von Aufstieg und Fall entdecken könnte — in einem entscheidenden Punkt ist diese Stabilität von Chaos und Ordnung durchbrochen: Der Wald kommt nicht mehr zurück. Das Forum Romanum konnte noch zum Weideland für das Vieh des Mittelalters werden, die Vegetation eroberte die gefallenen Städte zurück; wo aber einmal Los Angeles war, wird nie mehr etwas anderes sein als Wüste — zu radikal hat der Sturm der Moderne Tabula rasa gemacht, zu feurig hat die Fackel der Aufklärung ihre Rodungen vorangetrieben.

Die klimatischen Konsequenzen der systematischen Entwaldung des Planeten sind bereits seit einigen Jahren in den Blick geraten, Harrisons poetische Geschichte des Waldes lenkt die Aufmerksamkeit auf ein kaum weniger bedrohliches Phänomen: Mit dem Verschwinden des Waldes geht immer auch eine Verwüstung des geistigen Klimas einher. Und andersherum: „Wenn Desertifikation im Inneren stattfindet, können die Wälder in der Außenwelt nicht überleben.“ Seele und Umwelt — wir sind endlich in der Lage, das zu wissen — entsprechen einander. Es ist also kein Zufall, daß die „Wüste als eines der vorherrschenden Embleme in der Literatur der Moderne erscheint“. Wenn die äußere Umwelt Veränderungen erfährt, so Harrison, kündigen Dichter sie oft „mit der Hellsichtigkeit von Sehern“ an. Wie bei Orakeln werden ihre Botschaften erst voll erkennbar, wenn sich die vorhergesagten Ereignisse abgespielt haben. So könnte heute ein Gedicht wie Eliots „Wasteland“ als „Vorbote des Treibhauseffekts“ gelesen werden: „Die moderne Dichtung ist in ihren besten Stunden eine Art spirituelle Ökologie.“

Wie sein Gewährsmann Vico ist auch Harrison davon überzeugt, daß eine intuitive, poetische Anschauung der Dinge als wissenschaftliche Methode der rationalistischen Betrachtung und Vermessung ebenbürtig ist, zumal wenn es sich um den Hort der Intuition und Poesie schlechthin handelt, eben den Wald. Und so hat er eine poetische Geschichte der Wälder geschrieben — eine Geschichte des Schattens, gegen den sich das Licht der Zivilisation durchsetzen muß, den es aber um den Preis des eigenen Untergangs niemals vollständig zurückdrängen darf. Der Wald spendet nicht nur dem Körper den notwendigen Schatten, er repräsentiert auch, wie Harrison zeigt, das Schattenreich der Seele. Das Dunkel der Verirrung und Verwirrung, der Verzauberung sowie der übermenschlichen Kräfte und Gewalten wird zur Projektionsfläche der Psyche, die Wildheit und Finsternis des äußeren Walds zum Korrelat des Unbewußten — der Wald nicht nur als Biotop, sondern auch als Psychotop.

Sage mir, wie du im (und mit dem) Wald umgehst, und ich sage dir, wer du bist— so könnte man Harrisons Streifzug lesen, der vom archaischen Gilgamesch-Mythos über die klassische Antike, die Renaissance und Aufklärung bis zur modernen Literatur reicht.

Der Saum des Waldes ist die Nahtstelle von Natur und Kultur, die Grenze, an der sich entscheidet, ob die Integration dieser Gegensätze gelingt. Die christlichen Kirchen markierten in diesem Grenzgebiet seit je eine Art eisernen Vorhang — aus theologischer Sicht repräsentieren die Wälder „die Anarchie der Materie selbst“, sie sind foresta, „außerhalb“, und werden so zum Refugium der Ausgestoßenen. Die Verrückten und Verfolgten leben hier, die Räuber und Flüchtlinge ebenso wie die Eremiten und Heiligen, die bösen Weiber und die wilden Männer. Aber auch die alte Naturverehrung, die „heidnische“ Kommunikation mit dem Geist der Vegetation, das Wissen um die Ganzheit von „Mutter Erde“, findet hier sein Refugium — der Wald wird „zum Reservat kultureller Erinnerung“. Und so müssen sich im 19. Jahrhundert auch die Brüder Grimm, um die von der Schriftkultur der Renaissance in den Untergrund gedrängten volkstümlichen Überlieferungen zu retten, an die Ränder und in die Wälder begeben — an jenen Ort, der in den Sagen und Märchen, die sie im Laufe ihres Lebens sammeln, die entscheidende Rolle spielt. Nicht nur als Ort des Verbotenen, sondern überwiegend als Ort der Metamorphose, der Verzauberung und, wie Harrison zeigt, als Ort einer natürlichen und volkstümlichen Einheit, von deren Wiedergewinnung die Grimms träumen. Die Geschöpfe des Waldes bestrafen Selbstsucht und belohnen Gemeinschaftsgeist, Helden, die die Verwandtschaft aller Arten nicht respektieren, werden vernichtet, Kinder, die sie achten, verwandeln sich in strahlende Erwachsene.

„Was im Fall der Brüder Grimm auffällt, ist der hartnäckige Traum von Wiedergewinnung. Dieser Traum ist seiner Natur nach ausgesprochen modern. Er hat mehr dazu beigetragen, Deutschland zu verwüsten und es gegen sich selbst zu entzweien, als alle sogenannten Verwüstungen der Moderne. Ja, der Traum, der Traum von Wiedergewinnung, ist Deutschlands Alptraum, der auf seiner Unfähigkeit beruht, die Ironie anzuerkennen, die in den Wäldern seines Ursprungsmärchens lauert.“

Ist nicht gerade der Begriff „Wiedervereinigung“ zutiefst ironisch? Die Vorsilbe wieder stellt ihn deutlich in den Horizont der Ironie, denn die verlorene Einheit, nach der sich die Deutschen üblicherweise gesehnt haben, ist ein Märchen der Moderne. Sie ist immer schon verloren gewesen — sie existiert nur in diesem Verlust. Für die Deutschen kann das nur heißen: Vergeßt die Wiedervereinigung, macht euch ans Wiederaufforsten. Es gibt viel zu tun, pflanzen wir's an!

Robert Pogue Harrison: „Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur“. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. Hanser Verlag, 319 Seiten, 49,80 DM.

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