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Mutiger Freispruch für Totalverweigerer

■ Amtsrichter sprach jungen Mann frei, der kurz vor dem Golfkrieg den Zivildienst abbrach / "Nicht schuldhaft gehandelt"

/ „Nicht schuldhaft gehandelt“

Ein in der Rechtsgeschichte ungewöhnliches Urteil fällte gestern der Hamburger Amtsrichter Eberhard Klammt im Prozeß gegen den Totalverweigerer Christian Heil. Der Angeklagte habe zwar den Tatvorwurf der Desertion erfüllt, könne aber wegen „nicht vorhandener Schuld“ nicht verurteilt werden. Freispruch. Die Kosten des Verfahrens trägt das Gericht.

Wie bereits gestern berichtet, hatte Christian Heil kurz vor Beginn des Golfkrieges im Januar 1991 seine Zivildienststelle in einem Altenpflegeheim verlassen. Ihm sei bei der Kriegsdienstverweigerung nicht bewußt gewesen, daß er auch als Zivildienstleistender an einem Krieg beteiligt werden kann, begründete er seine Entscheidung vor Gericht.

Eine Erkenntnis, die auch Amtsrichter Klammt teilt: „Zivildienst ist Teil der Landesverteidigung“, das habe der Gesetzgeber nun einmal so festgelegt. Auch sei die vom Angeklagten vor Gericht geschilderte drohende Kriegsgefahr eine Entwicklung, die „mit Recht von vielen Menschen befürchtet wird“. Dies berechtige den Angeklagten aber nicht, den Zivildienst abzulehnen. Zumal er in seiner Dienststelle im Altenpflegeheim nicht unmittelbar zu Kriegsdiensten gezwungen worden wäre.

Der Jugendrichter begründete den Freispruch ausschließlich mit der besonderen seelischen Lage, in der sich Christian Heil zum Zeitpunkt der „Tat“ befand. So hatte der Uni-Professor Jochen Eckert in einem psychologischen Gutachten herausgearbeitet, daß bei dem Angeklagten die Herausbildung eines Gewissens zeitgleich mit der Bildung der psychischen Autonomie erfolgt sei. Der Konflikt habe sich so zugespitzt, daß der Angeklage verweigern mußte. Klammt: „Sonst hätte er sich selbst aufgegeben.“

Für Hamburg ist der Freispruch einmalig. Drei Mitstreiter von Christian Heil, die aus Protest gegen den Golfkrieg den Zivildienst abbrachen, wurden in der ersten Instanz zu mehrmonatigen Bewährungsstrafen und einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen a 90 Mark verurteilt. Seit letzter Woche sitzt wieder ein Deserteur in Wentorf in Bundeswehr-Haft. Im Bundesgebiet gab es drei oder vier Freisprüche, die allerdings alle in zweiter Instanz aufgehoben wurden. Mit einer Berufung der Staatsanwaltschaft muß wohl auch Christian Heil rechnen. Der Angeklagte war der Urteilsverkündung fern geblieben, zeigte sich erfreut über den Richterspruch. Als Mitglied der Hamburger Totalverweigerergruppe „Desertöre“ hofft er, daß sich künftig andere auf sein Urteil berufen können: „Das, was der Gutachter da beschrieben hat, das geht ja wohl so ziemlich jedem Menschen so, der etwas nicht will.“ Kaija Kutter

Kontakt „Desertöre“ Tel. 894338

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