piwik no script img

Bosnien vor einem harten Winter

Die Bevölkerung Sarajevos „zelebriert“ ein halbes Jahr Krieg mit Verwünschungen gegen die tatenlose Außenwelt/ Die UNO-Hilfsaktionen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein  ■ Von Roland Hofwiler

Gestern vor genau einem halben Jahr brach der Krieg in Sarajevo aus. Im Fernsehen und Radio liefen deshalb jetzt „Erinnerungssendungen“, wie es einmal war in dieser Vielvölkerstadt und welche Zukunft man ihr heute noch gibt. Grundtenor: Die bosnische Hauptstadt wird in Schutt und Asche versinken, die Einwohner werden verhungern, und Europa wird mit einem schlechten Gewissen weiterleben. Während voller Verzweiflung Radio- und Fernsehmoderatoren über Krieg und Frieden sinnierten, tobten in allen Teilen Sarajevos erbitterte Kämpfe, nach Augenzeugenberichten die verlustreichsten seit langem.

Die Nachricht von der Wiederaufnahme der Luftbrücke durch die UNO war dagegen keine Schlagzeile wert. Zu groß ist der Zorn der Bevölkerung auf die internationale Staatengemeinschaft, als daß die vier Transall-Maschinen, die nach fast einem Monat erstmals wieder am Sonntag in Sarajevo landen konnten, die Stimmung der verzweifelten Zivilbevölkerung heben könnten. Vier Flugzeuge am Tag sind gerade zehn Prozent der Lebensmittelmenge, die nach UNO-Angaben als Minimum für die 370.000 Menschen der bosnischen Hauptstadt angesehen werden. Doch um selbst diese Minimalmenge zu sichern, müßten täglich mindestens zwanzig Großraumflugzeuge mit Lebensmitteln und Medikamenten landen, denn schon in Friedenszeiten war der Sarajevoer Flughafen im Winter wegen dichten Dauernebels nur jeden dritten Tag offen. Weshalb sollte es in diesem Jahr anders sein, fragt man sich in Sarajevo — einer Stadt ohne Energievorräte, ohne ausreichend Strom und Wasser, mit ersten Nachtfrösten und kaum einem Wohnhaus, in dem die Fensterscheiben noch heil sind?

Die Menschen können eines nicht fassen: Weshalb schaltet sich die UNO nicht als eine Art Befreiungsarmee ein, weshalb zählt die UNPROFOR-Truppe vor Ort lediglich, wie viele Granaten einschlagen, von wo aus sie abgeschossen werden und wie viele Tote dabei zu beklagen sind.

Erscheint alle paar Tage wieder einmal eine Notausgabe der einst großen bosnischen Tageszeitung Oslobodjene, sind deren Spalten voll von Vorwürfen an das „gleichgültige Europa“. Nur eine Flugstunde von den Milch- und Fleischbergen der EG entfernt, lasse man es zu, daß Menschen verhungern und erfrieren würden. Bosniens Zivilbevölkerung benötige sofort 20.000 Tonnen Fensterglas, 200.000 Tonnen Decken und Planen und vor allem Brennmaterial. Einzige realistische Hilfe: nicht über die Luft, sondern mit der Eisenbahn von der dalmatinischen Hafenstadt Ploce über Mostar. In manch einer Bergregion komme bereits jetzt jede Hilfe zu spät.

Da die UNO geschlafen habe, so das Blatt, würden sowieso mindestens hunderttausend Menschen an Kälte und Hunger ihr Leben lassen; ein paar hunderttausend mehr, sollte die UNPROFOR „die gleiche Langsamkeit zur Schau stellen wie bisher“. Voller Hohn wünscht sich ein Kommentator ein großes Erdbeben. Dann wäre es den Opfern ja gestattet, ihre Heimat fluchtartig zu verlassen. Da gäbe es vielleicht auch eine größere Bereitschaft der übrigen Welt, den Opfern zu helfen.

USA wollen Flugverbotszone über Bosnien

Washington (taz) — US-Präsident George Bush ist für kurze Zeit aus den Niederungen des Wahlkampfs in die Außenpolitik zurückgekehrt: Nach wochenlangen Diskussionen und Kontroversen zwischen Militärs und außenpolitischen Beratern forderte Bush Ende letzter Woche eine Flugverbotszone für serbische Militärmaschinen über Bosnien. Die USA seien bereit, an der Durchsetzung einer solchen Zone mitzuhelfen, sagte er. Das wird allgemein als Angebot verstanden, US-Kampfflieger zur Verfügung zu stellen.

Im US-Außenministerium waren in den letzten Tagen immer häufiger Berichte zitiert worden, wonach serbische Luftangriffe gegen Stellungen der bosnischen Muslime und gegen Zivilisten verstärkt worden seien. Von seiten des Außenministeriums wird eine „No-Fly-Zone“ befürwortet, wie sie bereits im Norden und Süden des Irak gegen Saddam Husseins Luftwaffe verhängt worden war. Skeptiker und Gegner dieser Maßnahme sind vor allem im Pentagon zu finden. Noch Anfang der letzten Woche hatte Generalstabschef Colin Powell in einem Interview mit der New York Times die Androhung militärischer Gewalt gegen serbische Flugzeuge ausdrücklich abgelehnt und noch einmal seine Skepsis gegen jede Form militärischer Intervention in Bosnien betont.

Ob der UNO-Sicherheitsrat tatsächlich eine Flugverbotszone legitimieren wird, ist fraglich. Frankreich und Großbritannien haben sich bislang dagegen ausgesprochen — aus Angst vor Racheaktionen serbischer Verbände gegen ihre Bodentruppen, die zur Zeit als Teil der UNO-Verbände in Sarajevo die Lieferung von Hilfsgütern überwachen. Die USA haben bisher keine Soldaten für den UNO- Einsatz zur Verfügung gestellt.

Theoretisch hatten sich Frankreich, die USA und Großbritannien bereits auf der sogenannten Friedenskonferenz in London Ende August auf die Einrichtung einer Flugverbotszone über Bosnien geeinigt. Praktisch geschah aber seitdem nichts, weil die Frage offenblieb, mit welchen Mitteln ein solches Flugverbot durchgesetzt werden soll. Die französischen und britischen Vertreter im UN-Sicherheitsrat möchten es bei der Stationierung von Beobachtern belassen, die Verstöße gegen das Flugverbot registrieren sollen. Dies wiederum wird in Washington für nutz- und sinnlos gehalten. Die Bombenangriffe auf schutzlose Zivilisten, so Bush, erforderten eine Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft: „Wir werden Schritte unternehmen, um dafür zu sorgen, daß das Flugverbot eingehalten wird.“ Andrea Böhm

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen