piwik no script img

Der Entlaubungstrupp kam schon im Spätsommer

■ Eine Wallfahrt durch die Kulissen des „Lindenstraße“ Münchens vom Westdeutschen Rundfunk

Niemand will die freie Wohnung in Nr. 3 mieten, sich in Dr. Dreßlers alter Praxis behandeln lassen oder zu Sarikakis essen gehen. Die Besucher des WDR-Geländes in Köln-Bocklemünd sind Realisten. So realistisch wie ihre Lieblingsserie. Drei Gruppen auf einmal werden von jobbenden StudentInnen durch die Lindenstraßen-Kulissen geschleust. Wegen des Andrangs— sieben- bis achttausend Besucher pro Wochenende — finden ständig Führungen statt. Gebannt lauschen Rentnergruppen und Kleinfamilien den Fachinformationen. Wer hätte gedacht, daß die Lindenstraße nur 150 Meter lang ist, obwohl sie im Vorspann der Serie so viel größer wirkt? „Die Häuser sind nach hinten zu enger zusammengebaut, daher die optische Täuschung“, erklärt die Führerin. Täuschend weitläufig scheinen auch die Häuser in der Lindenstraße, obwohl sie zu klein sind, als daß man dort Innenaufnahmen machen könnte. Gedreht wird nur in den Läden der Kastanienstraße, in die die Lindenstraße einmündet. Der Rest ist Fassade. Die fünf Linden sind dagegen echt und haben viel auszustehen. Da immer drei Monate im voraus gedreht wird, rupfen die Requisiteure den Bäumen für die Winterszenen die letzten Blätter ab. Im Februar wird dafür künstliches Frühlingsgrün angeklebt.

Werbeplakate für Filmklassiker kleben an der Wand der Produktionshalle, in der die Innenaufnahmen gedreht werden — im Vorspann stellt diese Wand das Lindenstraßen-Kino dar. Eine Stahltreppe führt zu einem Fensterchen unter dem Dach. Hier drücken sich die Touristen die Nasen platt: „Guck mal, der Friseursalon!“ Hier hat man außerdem freie Sicht auf den Spielplatz der Lindenstraße, der früher auch für Friedhofsszenen herhalten mußte. Aber nach 350 Folgen voller Leiden und Tod reichte der knappe Platz nicht mehr für die vielen Grabsteine.

In zehn Innenräume der Serie kann man sich mit Blue-box-Technik hineinprojizieren lassen. Vor allem Kinder drängeln sich hier, die Erwachsenen halten sich eher zurück. „Viele schämen sich, daß sie Lindenstraße gucken. Die meisten tun so, als hätten sie keine Ahnung, aber verplappern sich dann doch“, erzählt die Design-Studentin Bettina Leichtweis, die seit einem Jahr durch die Lindenstraße führt. Tatsächlich: „Wir kommen vom Lande, da hat man keine Zeit für so etwas“, versichern drei Bäuerinnen aus dem Sauerland. Der Kölner Rentner daneben nickt verständnisvoll: „Ich gucke die Lindenstraße sowieso nur wegen meiner Frau.“

Dabei sind in Wirklichkeit doch alle nur wegen der „Lindenstraße“ hier, der Sendung mit der höchsten Einschaltquote nach der „Tagesschau“. Erst nach dem überraschenden Erfolg der Serie öffnete der WDR das Drehgelände dem Publikum. Und die Lindenstraßen-Kulissen sind unbestritten die Hauptattraktion. Wer zöge sie nicht dem Firlefanz in den umstehenden bunten Pavillons, dem „Café Millowitsch“ oder der „Sendung-mit-der-Maus-Show“, vor?

Die Lindenstraße ist dagegen etwas Reelles. „Man findet darin eine Bestätigung für das, was man sieht — also daß das andere auch so sehen“, meint der Bochumer Horst Fernzel, der die Serie von Anfang an gesehen hat. Ist die Lindenstraße also ein Garant von Intersubjektivität? Verbürgt sie die Möglichkeit einer „richtigen“ Weltsicht mitten in der Postmoderne?

Liebevoll ist der Mikrokosmos Lindenstraße mit Details ausgeschmückt, die die Kamera nicht sieht. Obwohl sie offenbar noch aus der Aufbauphase der Kulissen stammen. An der arg verbeulten Bushaltestelle klebt ein Original- Verbundfahrplan von München von 1984. Die Plakate auf der Litfaßsäule stammen zwar alle aus dem süddeutschen Raum, sind aber ebenfalls Jahre alt. Und auch die Preise haben sich seit 1984 trotz der Inflation nicht geändert. „1,50 Mark für eine Cola, und das in München“, höhnt die Bonner Germanistikstudentin Maren nach intensivem Studium der „Akropolis“-Speisekarte. „Und in dem Supermarkt würde ich auch gerne mal einkaufen!“ Ein Liter Milch kostet hier noch 99 Pfennig.

Schlampigkeit mitten in der Detailfreude zeigen auch die handgeschriebenen Türschilder. Sie hängen an allen Häusern – außer an Nr. 3. „Hier wird nämlich unheimlich viel geklaut. Wenn die Schilder nicht an jedem Wochenende abmontiert würden, müßte man ständig neue machen“, erklärt die Führerin. In Nr. 1 wohnen ein Anlageberater, ein Immobilienmakler und die ÖTV-Zweigstelle Süd. Potentielle neue Gesichter in der Lindenstraße? Eine flotte Gewerkschaftsfunktionärin, ein schmieriger Geschäftsmann?

An Drehtagen ist der Andenkenstand hinter einem Garagentor verborgen. Hier haben die Lindenstraßen-Stars auch ihre Autogramm-Stunden. Das originellste Souvenir ist eine Armbanduhr, auf der ein kleines Lindenstraßen- Schild im Sekundentakt vorwärtsrückt. „Am besten gehen aber die großen Straßenschilder“, sagt der Andenkenverkäufer Michael Becker. Er bringt die schizophrene Haltung der Lindenstraßen-Konsumenten auf den Punkt: „Das ist wie MacDonald's: der größte Scheiß, aber man kommt nicht davon los.“ Miriam Hoffmeyer

WDR Publik, Freimersdorfer Weg, 5000 Köln-Bocklemünd, geöffnet Mai bis September samstags 12—18 Uhr, sonntags 10—18 Uhr. Eintritt 6 DM, ermäßigt 4 DM.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen