: Mit gesundem Zynismus
Lew Dodin und das Maly Theater St. Petersburg auf Deutschland-Tournee ■ Von Oksana Bulgakowa
Schon wieder ein Stück über Brutalität in der Armee, dachte ich, über in allen Medien hinlänglich ausgeschlachtete Dinge: Erpressung, Rassismus, Korruption, Alkoholismus, Mord, Demütigungen, Selbstmord... Nachdem Glasnost auch die Heiligkeit der Sowjetarmee freigab, entstand ein Dutzend enthüllender Spielfilme darüber (einer davon, „Die Wache“, bekam 1989 den Silbernen Bären), zig Dokumentarfilme, noch mehr Gerichtsberichte, Erzählungen und Novellen. Eine der ersten, „Das Baubataillon“, stammte von Sergej Kaledin und lieferte die Inspiration für das Stück „Gaudeamus“. Der lange Atem von Lew Dodin, Regisseur eines Kammertheaters, zuletzt unter Beweis gestellt in einer 18stündigen Inszenierung von Dostojewskis „Dämonen“ an drei Abenden, dazu sein Hang zum Naturalismus... — daß aus dieser Mischung lebendiges Theater entstünde, habe ich nicht glauben können.
Doch es geschehen noch Wunder. Und es geschieht vor allem Theater. Zwanzigjährige Studenten tobten sich zwei Stunden lang aus, es war eine kräftige, zum Teil derbe Improvisation, die in erster Linie die Kraft ihrer Jugend demonstrierte und so den Titelwechsel (von „Baubataillon“ zu „Gaudeamus“) rechtfertigte.
Die jungen Einberufenen in Zivil laufen über das schräge, mit weichem Theaterschnee bedeckte Podest und fallen in Löcher, die sich plötzlich auftun — vielleicht in Plumpsklos, denn die Soldaten dieses Bataillons verbringen die meiste Zeit ihres Dienstes in der Latrine, mit dem Ausheben der Grube. Diese Lebensumstände sind natürlich spielerisch angedeutet und metaphorisch zu verstehen: Sie stecken bis zum Hals in der Scheiße.
Sie tauchen aus den Löchern im Theaterboden wieder auf, umgewandelt, kahlgeschoren, in Uniform. Die ersten Szenen entfalten sich als Improvisation beim Verlernen der Sprache; die Worte sind durch Laute ersetzt, und auch sie werden immer unwichtiger.
Wozu noch Worte?
Die Truppe besteht aus Russen, Juden, Ukrainern, Burjaten, Zigeunern... Ein Usbeke spricht kaum russisch, ihm wird beigebracht, wie er Meldung machen soll. Die Intonation, den Rhythmus kann er gerade noch nachahmen, die Worte aber kann er weder behalten noch begreifen. Der verzweifelte Sergeant schlägt vor, einfach Muh-Muh-Muh zu schreien, der Usbeke ist immer noch ungläubig und sucht nach einer Kuh in der Kaserne, doch hier ist Abstraktion gefragt. Das Spiel mit der Auflösung der Sprache setzt sich fort: Die Instruktionen des Majors, eines Ukrainers, der die Muh-Meldung ohne mit der Wimper zu zucken entgegennimmt, kreisen — in unzähligen Wiederholungen — endlos. Bis zur Sprach- und Sinnlosigkeit. Die Spitze ist beim Studium des Statuts erreicht. Der Unterleutnant, ein Burjate, liest daraus vor — mit total umgestülpten logischen Betonungen. Jede Klammer und jede Abkürzung wird so vorgelesen, daß der Sinn schwindet. Die Soldaten versuchen die Instruktionen „wörtlich“ am Körper auszuführen, so daß der verbale Nonsens zum körperlichen wird. Nach drei Szenen wird es perfekt, die Worte sind ausradiert, das körperliche Spiel kann beginnen. Genial, wie der Unterleutnant den Krieg im Nahen Osten erklärt. Politunterricht: der Zug wird in zwei Abteilungen gegliedert, der Jude Itzkowitsch zum „Araber“ erklärt und von den russischen Antisemiten, die „Israelis“ spielen, „getötet“.
Die einzige Sprache, die den Menschen bleibt, ist die der Klageschriften, Beurteilungen, Befehle. Am Ende der Vorstellung wird zum ersten Mal ein zusammenhängender Text vorgelesen: die Beurteilung des Soldaten Kostja, die Sätze sind einwandfrei gebaut und die Worte laut artikuliert, nur steht der Inhalt in keiner Beziehung zum Menschen. Wozu also Worte?
Choreographie
Sprachlosigkeit beherrscht auch alle anderen Beziehungen außerhalb des Dienstes, in erster Linie den Sex, oder, wie es in früheren sowjetischen Armeeromanen hieß, die Liebe. Hier: Alkohol, Drogen, Vergewaltigung (kollektiv, ein Zug — ein Mädchen) usw. Nur ist es nicht als Entlarvung ausgestellt, Dodin zielte mit seinen Studenten auf etwas anderes. Er läßt das Derbe derb erscheinen, doch überführt er die naturalistischen Szenen stets in eine andere — choreographische und musikalische Dimension; er läßt sie zweimal spielen: der Soldat packt ein sich waschendes Mädchen am nassen Zopf, dieser Annäherungsversuch wird plötzlich als Menuett fortgesetzt: dasselbe Paar erscheint — statt in Militärunterhosen und Unterrock — in Ballkleidung, die derbe Gestik wird durch barocke Anmut ersetzt. Die andere Verführungsszene wird auf dem Flügel ausgelebt, nicht übertragen, sondern direkt. Auf dem Deckel, der Flügel erhebt sich in die Luft, und die Zehen des Paares spielen Schubert auf den Tasten, die Zärtlichkeit der Melodie wird bewahrt.
Ein Mädchen aus dem Arbeiterwohnheim, das vielleicht schon mit dem ganzen Zug verkehrt hat, schreibt einen Brief an den Geliebten, wie einst Puschkins Tatjana. Natürlich ist es eine andere Tatjana. Den groben unbeholfenen Text liest die Schauspielerin vor, während sie graziös im Tatjana- Kleid auf Rollschuhen zu Tschaikowski-Musik gleitet. Worte, Musik und Körpersprache ragen auseinander. Nicht als Kontrast — damals gegen heute; solche Verklärungen sind dem Geist des Stückes fern, sondern als leise Hoffnung, daß diese Musikklischees und die Körpersprache des anderen Jahrhunderts im emotionellen Gedächtnis aufbewahrt bleiben, wie innere Projektionen.
„Gaudeamus“ ist voll von musikalischen Versatzstücken: Schlager aus der Kriegszeit, ein italienischer Kinderstar aus dem sowjetischen Radio der 60er Jahre, die Lieder der Breschnew-Ära und Klassik zum Tee. Die Jungs leben in einer Welt ohne Worte, mit fremder Musik — sie haben keine. Ist das ihre Schuld?
Avantgardistischer Traditionalismus
Es gibt in dieser Inszenierung Wiederholungen, Hänger, viele Schlüsse. Ihr Improvisationscharakter ließ einzelne Episoden genial geraten, doch die Gesamtkomposition — wie oft in solchen Fällen — hinkt.
Der Mord wie auch der Selbstmordversuch eines Usbeken, auf den der Mord geschoben werden soll, sind Überreste der Fabel und hier fehl am Platz. Der Regisseur hatte vermutlich wenig Vertrauen ins eigene Experiment: Theater ohne Wort und ohne Fabel. Am Ende sollte etwas richtig dargestellt werden. Mit Handlung, Sinn und Zuspitzung. Die Unentschlossenheit der Inszenierung kippt hier plötzlich um in Hilflosigkeit. „Gaudeamus“ bleibt zwischen Musical, absurdem Theater, sowjetischem Moralstück und SozArt.
Das Theater ist mit dem Stück, das aus Studentenetüden entstand, viel unterwegs. Die Aufführung stirbt, wenn die Studenten erwachsen werden und das Ensemble verlassen (meist sind es Dodins Regiestudenten). Ariane Mnouchkine schaute es sich in Paris an und schickte ihre Studenten hin, damit sie hier das Prinzip der Maske im modernen Theater studieren, dabei spielen die meisten Darsteller keine Masken — ihre Wirkung basiert auf dem sinnlichen Naturell ihrer Körper. (Schon zwei Jahre laufen sie kahlgeschoren herum und werden es noch lange tun, wie es ihnen befohlen wird, wie ihre Einberufung für diese Aufführung währt.) Das sorgt für einen Hauch Melancholie des Vergänglichen, der der Inszenierung eine überraschend poetische Note verleiht: Die Jugend geht vorbei, und das Grab wird uns einholen. Freut euch, solange es geht. Gaudeamus igitur. Dodin aber vertraut dieser Art nicht artikulierter Poesie zu wenig und läßt seine Truppe mitten im Stück einen Choral anstimmen, als ob religiöse Erleuchtung für mehr Durchgeistigung sorgen kann. Doch weder Kirchenmusik noch Beethovens Neunte müssen (und können) dieses Leben ohne Wert und Werte aufwerten, rehabilitieren. Hier ist Dodin zu sehr der kunstgewerblichen Besserungs-Tradition der Sowjetdramatik verhaftet. Die Armee-Wirklichkeit ist grausam, doch es war ihre Jugend; sie haben keine andere und müssen mit dieser unästhetischen Zeit — in der Scheiße, mit diesem Major als Guru und diesen Mädchen als ihren Tatjanas und Ophelias — auskommen. Und das mit allen Kräften ausleben.
Das Stück hat etwas von gesundem Zynismus (solange man noch den eigenen Körper fühlt, lebt man), und das ist der Modus des Überlebens in der zerfallenen Sowjetunion heute. Er gilt nicht mehr nur für Soldaten eines Baubataillons, sondern für alle. Darin steckt die große Metaphorik und natürlich das fertige Klischee: Sinnliche Freude läßt selbst das sprachlose Leben in der Scheiße vergessen, und der Choral der Reinigung bleibt als Ersatzvariante parat.
„Gaudeamus“, mit dem Maly Theater, Regie: Lew Dodin. 8. bis 18.10. Deutsches Theater München; 21. bis 25.10. Gallo-Theater, Essen; 26.10. bis 1.11. Kampnagel- Fabrik, Hamburg.
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