: Atommüllkippe für alle offen
Antragsunterlagen zum Zwischenlager Greifswald unterscheiden nicht zwischen Ost- und Westmüll/ Betreiber will nicht auf Rechte verzichten ■ Von Gerd Rosenkranz
Berlin (taz) — Entgegen den wiederholten Beteuerungen der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern soll das am früheren DDR-Reaktorstandort Greifswald geplante atomare Zwischenlager Nord (ZLN) nun doch Atommüll aller Art aus westdeutschen Atomanlagen aufnehmen dürfen. Das legen Einzelheiten der Antragsunterlagen nahe, die jetzt bekanntgeworden sind. Danach sollen ab 1995 in der auf eine Gesamtkapazität von 200.000 Kubikmeter ausgelegten Anlage neben Strahlenabfällen aus Atomkraftwerken und dem Abriß der sechs kontaminierten DDR-Reaktorruinen von Greifswald und Rheinsberg auch hochradioaktive „konditionierte Abfälle aus der Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen“ untergebracht werden. Die Herkunft der Strahlenstoffe spielt bei all dem jedoch keine Rolle. Die brisanten Details sind in den Planunterlagen enthalten, die die in Essen ansässige „Gesellschaft für Nuklearservice“ (GNS) Mitte Juli zur Begutachtung beim bauplanungsrechtlich zuständigen Landrat des Kreises Greifswald- Land eingereicht hat.
Nach Berechnungen des Darmstädter Öko-Instituts kann der für die Lagerung hochradioaktiver Abfälle vorgesehene Hallenbereich knapp 2.000 Tonnen Atommüll aufnehmen — wahlweise abgebrannte Brennelemente oder mit Glas eingeschmolzene Abfallkokillen aus der Wiederaufarbeitung in Frankreich und England. In Greifswald selbst fallen aber nur etwa 630 Tonnen hochradioaktive Abfälle in Form abgebrannter Brennelemente an. Gemessen am Greifswalder Eigenbedarf ist auch der für schwach- und mittelradioaktive Abfälle reservierte größere Hallenbereich überdimensioniert. „Die Differenz“, sagt der Reaktorexperte des Öko-Instituts, Michael Sailer, „ist zwangsläufig für radioaktive Abfälle aus dem Westen vorgesehen.“
Die Vorstellung, die Atomwirtschaft werde den ostdeutschen Sonderfall Greifswald/Rheinsberg nicht in den gesamtdeutschen Atommüllkreislauf einbauen, scheint angesichts der Planungen überholt. Vielmehr konkretisiert sich eine strategische Gesamt-Entsorgungsplanung der bundesdeutschen Atomwirtschaft, die allerdings von der Schweriner Landesregierung, dem Greifswalder Treuhandunternehmen „Energiewerke Nord“ und neuerdings auch von der antragstellenden GNS selbst mehr oder weniger pointiert bestritten wird. GNS-Manager Dieter Rittscher, der den Antrag formuliert hat, beteuerte gestern gegenüber der taz, die westdeutsche Stromwirtschaft brauche das Lager an der Ostsee „momentan“ nicht und habe „faktisch kein Interesse“ an dem dortigen „Hickhack“. Gleichzeitig räumte Rittscher ein, daß mindestens im Hallenbereich für hochaktive Abfälle „Raum übrig bleibt“. Die Überdimensionierung sei Ergebnis einer Konzeptänderung: Zunächst habe man geplant, die im Osten gebräuchlichen Container weiter zu verwenden. Später habe man sich aus Kostengründen jedoch für die kompaktere Lagerung in Castor- Containern aus dem Westen entschieden, aber darauf verzichtet, die Halle zu verkleinern.
Rittscher besteht weiter darauf, den Antrag „ohne Angabe der Abfall-Herkunft“ genehmigt zu bekommen. Er werde „nicht ohne Not auf Rechte verzichten, die der GNS zustünden. Ansonsten könne künftig jedes Bundesland auf die Idee kommen, nur noch heimischen Atommüll zu lagern. Mecklenburg-Vorpommern habe „sich selbst eine Zwangsjacke angelegt“, aus der es sich nun mühsam befreien müsse.
Das Atommüllager mit einer umbauten Fläche von insgesamt 28.000 Quadratmetern ist nach den Antragsunterlagen für eine Betriebsdauer von 50 Jahren und als Anlage mit kompletter eigener Infrastruktur konzipiert. Der Abriß der Greifswalder Reaktorruinen soll ein Vierteljahrhundert in Anspruch nehmen. Das Zwischenlager wird nach GNS-Berechnungen rund 400 Millionen Mark kosten, die 200 benötigten Castor-Behälter für abgebrannte Brennelemente weitere 200 Millionen.
Unterdessen formiert sich nicht nur Widerstand vor Ort, sondern auch bei potentiellen West-Investoren. Diese drohen, sich aus der Region zurückzuziehen, falls das Zwischenlager realisiert wird. So wandte sich die Reederei Nautik- Stieler aus Bergheim bei Köln schriftlich an die örtliche Anti- Atom-Bürgerinitiative. Man sei erschrocken, schrieb Firmenchef Karl Stieler, der sich an der Ostsee in der Personenschiffahrt und in Wassersporteinrichtungen engagiert, „daß sich Firmen aus dem Westen anmaßen, ein Zwischenlager zu errichten, welches dazu führt, daß der Tourismus ... abrupt beendet wird“. Auch ein ebenfalls in Westdeutschland ansässiges Wohnungsbauunternehmen, das im Raum Greifswald den Bau von mehr als 1.000 Wohnungen plant, formulierte empört, es sei schockierend, „daß die Bundesregierung und das Land solchen Machenschaften eventuell eine Genehmigung erteilt und die schöne Landschaft auch noch verseucht werden soll“. Dann könne „die Region als gute Wohngegend abgeschrieben werden“.
Ausgelöst hatte die neue Aufregung der Lubminer Bürgermeister Rüdiger Mattis, der den an den Greifswalder Landrat gerichteten Bauvorantrag der GNS im September ohne Einwilligung des Essener Unternehmens und der Energiewerke Nord zur Einsicht für die Bürger freigegeben hatte. Innerhalb einer Woche sammelte die BI daraufhin 5.309 Einwendungen gegen das Projekt.
Die BI-Vorsitzende Rosemarie Poldrack erklärte gegenüber der taz, der von den Energiewerken anvisierte „schnelle Abriß“ der fünf Reaktoren sei „technisch und organisatorisch nicht ausgereift“. Um das Abrißpersonal und die Bevölkerung vor unkontrollierter Freisetzung von Radioaktivität zu schützen, wäre es besser, die Ruinen zunächst für einen gewissen Zeitraum „sicher einzuschließen“, den größten Teil der Strahlung abklingen zu lassen und so das Risiko zu minimieren. Solange könne auch auf das Lager verzichtet werden. Ansonsten sehe sich die Region in ein paar Jahren nicht mehr nur mit dem Gefahrenpotential der stillgelegten Reaktoren konfrontiert, sondern zusätzlich mit dem eines Zwischenlagers und einer Vielzahl von Atomtransporten, fürchtet die BI-Vorsitzende.
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