: Es gibt Gründe dafür, dick zu sein
■ Mit Eßsucht rebellieren Frauen häufig gegen Rollenerwartungen / Fett als Schutzschicht
Mit sechs Jahren schon den Bauch beim Baden zu dick gefunden, mit neun die erste Diät mit den älteren Schwestern: Hundert Mal ums Gartenbeet laufen und nur Knäckebrot mit Buttermilch. Dann Bauchweh. Mit 13 zehn Kilo in sechs Wochen zugenommen, gerne mal einen ganzen Topf mit Schlagsahne verschlungen. Finger in den Hals, die Hälfte wieder rausgekotzt. Als Teenager immer mehr Probleme mit dem Essen, panikartige Freßanfälle. Dann wieder und
1wieder der Versuch, eine Woche zu fasten, abgebrochen meist nach anderthalb Tagen. Dann mit 16 das „Anti-Diät-Buch“ von Susie Orbach von einer Freundin geliehen bekommen und ausreichend Aha-Erlebnisse gehabt.
Die Feministische Psychotherapeutin geht davon aus, daß Eßsucht nichts mit mangelnder Disziplin oder Willenskraft zu tun hat. Dickleibigkeit ist vielmehr eine Reaktion auf die Ungleichheit der Geschlechter, eine Rebellion gegen
1frauenspezifische Rollenerwartungen. Anders gesagt: Es gibt auch eine ganze Menge Gründe, die dafür sprechen, dick zu sein.
Bevor Frauen nun ernsthaft daran gehen abzunehmen — was nach Meinung der Autorin am besten in dafür zu gründenden Selbsthilfegruppen geschieht — sollten sie sich über die Vorzüge ihrer Körperform im klaren werden. So stellt Fett für viele Frauen eine Art Schutzschicht dar, birgt Schlanksein für viele die Befürchtung, nur noch als Sexualobjekt und nicht mehr als Person betrachtet zu werden. Viele Frauen entdecken auch, daß Angst vorm Schlanksein mit der Angst vor zuviel Macht zusammenhängt, oder daß Dickwerden ein unterbewußter Versuch ist, Konkurrenz zu anderen Frauen zu vermeiden.
Das 1979 im Verlag Frauenoffensive erschienene Buch ist für von der Problematik Betroffene von der ersten bis zur letzten Zeile lesenswert und wurde in Deutschland bislang über 80000 mal verkauft. Wem die Teilnahme an einer Gruppe zu aufwendig ist, der helfen meist auch schon ein paar praktische Ratschläge. Eßsüchtige Frauen haben es verlernt, in einem ganz entscheidenden Bereich auf die Signale ihres Körpers zu hören. Wer einen Druck auf der Blase verspürt, geht auf Toilette, wer friert, zieht sich einen Pullover an. Wer Hunger hat, ißt. Nun haben es eßsüchtige — und im übrigen auch magersüchtige — Frauen verlernt, den eigenen Hunger zu spüren. Sie müssen erst wieder lernen, zwischen „Mund Hunger“ und „Magen Hunger“ zu unterscheiden. Susie Orbach rät daher Frauen, das Hungergefühl erstmal wieder zuzulassen und sich in ihrer Fantasie genau vorzustellen, worauf sie Appetit haben, bevor sie zum Kühlschrank oder in den Supermarkt gehen. Gute und schlechte, gesunde und ungesunde Lebensmittel gibt es bei ihr nicht. Die Investition in ein Lachsbrötchen zur gewünschten Zeit wiegt die Unkosten für erfolglose Diäten bestimmt wieder auf.
Es kann aber auch sein, daß frau sich in ihrer Fantasie für keine Speise entscheiden kann. Dann, rät die Therapeutin, „hast du vielleicht gar keinen Hunger und brauchst etwas ganz anderes“. Eine Umarmung, ein bißchen Weinen, ein
1heißes Bad, ein nettes Telefongespräch oder einen Dauerlauf.
Susie Orbach vergleicht Eßsucht mit Alkohol- und Heroinabhängigkeit. Nur daß Eßsüchtige ein sehr feindliches Verhältnis zu der Droge haben, nach der sie sich so sehr sehnen. Sie haben verlernt, auf natürliche Signale zu reagieren und sind meist durch eine Unzahl von Abmagerungskuren infantilisiert, in ihrer Entscheidungsfreiheit bezüglich des Essens eingeschränkt. Wenn nun im Rahmen einer Diät einer Eßsüchtigen geraten wird, etwas zu kontrollieren, worüber sie ihrer Meinung nach die Kontrolle verloren hat, fühlt sie sich machtlos und schuldbewußt. Statt Vorschriften zu folgen, ist es wichtig, die Angst vor dem Ausgeliefertsein zu verlieren. Um das Gefühl der Unersättlichkeit zu verlieren und es zu üben, Nahrung zurückzuweisen, rät Orbach zum Beispiel, von jeder
1Speise und jedem Getränk stets einen Bissen oder einen Schluck übrig zu lassen. Auch ist der regelmäßige Gang zur Waage destruktiv. Für Eßsüchtige ist sie die Richterin für gute und böse Tage.
Statt sich diesem äußerlichen Gradmesser auszusetzen, sollten Frauen lieber das Gefühl für den eigenen Körper zurückgewinnen. Ein Hilfsmittel dafür ist die Spiegelübung. Frauen sollen ihren Körper wie eine Skulptur betrachten, sich mit seinen Proportionen vertraut machen. Denn erst, wenn Frauen ihre Fettschicht als ihnen zugehörig betrachten, fürchten sie beim Abnehmen nicht mehr den Verlust einer Schutzschicht, sondern kommen sich komprimiert vor. Und noch ein Tip: Statt weiter Kittel oder zu enger Klamotten — auf die Frau sich zuhungern müßte — sollte stets Kleidung gekauft werden, die paßt. kaj
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