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Viel Nostalgie und der Hauch einer Perspektive

■ Sozialdemokraten zelebrieren den Gründungsmythos: Drei Jahre Ost-SPD

Berlin (taz) — „Die ersten zwei Jahre der Einheit mußten unter der Dominanz des Westens stattfinden. Aber muß daraus folgen, daß wir den Westen in all seinen Strukturen und Facetten übernehmen? Müssen wir uns rückhaltlos am Leitbild ökonomischer Effizienz orientieren?“ Wolfgang Thierse, sozialdemokratischer Vordenker aus dem deutschen Osten, präsentiert seinen Genossen aus den neuen Ländern, worüber er grübelt, seit die Erwartung gleicher Lebensverhältnisse von den ökonomischen Realitäten ad absurdum geführt wird. „Wollen und können wir uns eine Debatte hierüber erlauben, nachdem das 89/90 nicht möglich war?“

Die Genossen wollten und konnten nicht — zumindest am vergangenen Mittwoch im Berliner Reichstag. Begangen wurde dort der dritte Jahrestag der SDP- Gründung in der DDR. Bearbeitet wurde auf der ganztägigen Veranstaltung mit den Aufrechten der ersten Stunde und interessierten Parteifreunden aus der ehemaligen DDR — nicht die Perspektive einer künftigen sozialdemokratischen Politik für den Osten, sondern — zum wievielten Mal eigentlich — der Gründungsmythos von Schwandte. Dort wurde — glaubt man den referierenden Insidern — Hand ans SED-Regime gelegt. Dort wurde, so der brandenburgische SPD-Landesvorsitzende Steffen Reiche, der „Verein der Scharfschützen“ aus der Taufe gehoben, der als Partei den Machtanspruch der SED in Frage stellte und ihre alsbaldige Abdankung mit herbeiführte.

Reiche benennt die Gefahr, „Klischees zu bedienen“, die Versuchung, „Weissagungen aus der Erfüllung“ zu produzieren. Doch wenigen Rednern gelingt es, an diesem Tag den nostalgischen Flair zu durchbrechen, der über der Veranstaltung hängt.

Selbst die sporadisch auftauchenden strittigen Punkte erscheinen wie die Wiederauflage längst vergangener Kontroversen, in denen es um die Definitionsmacht über die Historie geht — spannende Fragen für die Akteure von einst: Hat sich die SPD damals aus dem Bündnis der Opposition davongestohlen, um ihr eigenes Süppchen auf Kosten der Bürgerbewegung zu kochen, wie einige Kritiker meinen, die Reiche die „Arroganz des Siegers“ unterstellen? — Der Sieg fiel bekanntlich nicht allzu grandios aus und die Antwort auf diese und ähnliche Fragen, der Streit um die richtige Antwort ist Vergangenheitsbewältigung im schlechten Sinn, wärmend für die Enttäuschten, irrelevant für die Pragmatiker.

Dabei hätten sich ja auch aus den diffizilen Fragen an die kurze Parteigeschichte einige Brücken in die Gegenwart schlagen lassen. Das Verhältnis zur West-SPD beispielsweise endet ja nicht mit der Parteivereinigung im Herbst 90. Aber zwischen der Ausblendung der aktuellen parteiinternen Ost- West-Brüche und Holger Börners schmeichelhafter Eingangslüge, die Vertreter der Ost-SPD seien „aus der deutschen Demokratie überhaupt nicht mehr wegzudenken“, findet keine Vermittlung statt. Auch die Rolle der Staatssicherheit für die Entwicklung der Partei hätte sich anhand ihres prominentesten Vertreters, Ibrahim Böhme, durchaus etwas konkreter fassen lassen. Doch auch zwischen Reiches nobler Geste — „wir müssen uns seiner nicht schämen“ — und Martin Gutzeits aktenbewehrter These — eine Beeinflussung durch die Stasi fand nicht statt — klafft eine Lücke.

Daß Stolpe auf der Veranstaltung kein Thema war, versteht sich da fast schon von selbst. Nur aus Bemerkungen hinter vorgehaltener Hand ließ sich an diesem Tag der aktuelle Stand parteiinterner Distanzierung ablesen. Implizit immerhin, Markus Meckel: „Ich habe noch keine gefälschte Stasi- Akte gesehen.“ Grete Wehner hält dagegen. „Laßt uns mit dem zerstörerischen Werk durch die Akten aufhören.“

Was bleibt von der Ost-SPD, deren Gründung da gefeiert wurde? Ein paar Veränderungen im SPD-Statut — vom Bundestagsabgeordneten Konrad Elmer liebevoll erläutert — über deren Relevanz für die Praxis der Partei sich streiten läßt? Ein Jahrestag, der an die Zeiten eines — halb dementierten Aufbruchs erinnert? Immerhin, Steffen Reiche, Richard Schröder und Wolfgang Thierse näherten sich der Frage, indem sie die aktuelle Misere der Partei zumindest anklingen ließen: „Kein Geld, keine Mitglieder, keine Praxis“, formulierte Reiche die Tristesse — eine „Armut“, die sich — auf welchen Wegen auch immer — am Ende vielleicht doch „als Reichtum erweisen“ könnte?

„Die SDP war ein enthusiasmiertes, aber nicht sehr effektives Chaos“, analysiert Richard Schröder. Der Enthusiasmus ist weg, das Chaos bleibt — eine Aktualisierung, der Schröder kaum wiedersprechen würde. Man habe die Einheit gewollt, „ohne zu wissen, was da auf uns zukommt“, formuliert der frühere Zuchtmeister der SPD-Volkskammerfraktion nicht ohne selbstkritischen Unterton. Sein Motto morgens und abends: Anpacken und bloß nicht wehleidig werden.

Und dann noch einmal Thierse, der Unvermeidliche, der ganz am Ende erst den Genossen eine neue Perspektive andeutet, ein bißchen Biedenkopf, ein bißchen Gerechtigkeitskomitee, klug synthetisiert. Warum sollte im „Krisenstadium der deutschen Einheit nicht so etwas entstehen wie der zweite Mut zu uns selbst?“ Gibt es nicht doch „identitätsstiftende Momente“, „jenseits der fatalen Logik des Nachholens“? — Darüber wird noch zu debattieren sein. Matthias Geis

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