piwik no script img

Nobelpreis für Literatur für Derek Walcott

■ Ein „Grenzgänger zwischen den Kulturen“ aus Trinidad erhält in diesem Jahr den Literatur-Nobelpreis/ Allgemeine Überraschung

Berlin (dpa/taz) — ..sssame procedure as every year, James... Jedes Jahr um dieselbe Zeit bricht in allen Redaktionen dasselbe Chaos aus: die Nobelpreisjury hat getagt, und die Voraussagen sind Altpapier geworden; unbekannte Namen werden mühsam buchstabiert, und der Eurozentrismus rächt sich aufs bitterste. Nachdem sich alles miteinander mit Wole Soyinka (1986) und Nagib Mahfuz (1988) blamiert haben, gönnte uns das schwedische Politbüro kundiges Aufatmen mit Paz (1990) und Gordimer (1991), um in diesem Jahr wieder mit einer völkerverbindenden Überraschung aufzuwarten: Der Nobelpreis für Literatur geht an den karibischen Lyriker Derek Walcott.

Der 62jährige lebt in Trinidad und Boston, wo er Anglistik lehrt, und wird „als Grenzgänger zwischen den Kulturen“ gewürdigt. Niemand sagt es besser als dpa: „Aus seiner karibischen Heimat, der englischen Sprache und seinen afrikanischen Wurzeln schöpft er seine dichterische Kraft.“

Der schönste auf deutsch erhältliche Text über Walcott ist von dem Lyriker Joseph Brodsky, der zum „Königreich des Sternapfels“ (1979) eine Einführung schrieb: „Derek Walcott wurde auf der Insel St.Lucia geboren, wo, des Reiches müde, die Sonne untergeht. Sie erhitzt dabei allerdings einen Schmelztiegel von Rassen und Kulturen, viel größer als irgendein anderer nördlich des Äquators. Das Reich, aus dem dieser Dichter kommt, ist ein echtes genetisches Babel; englisch jedoch ist seine Zunge.

I'm just a red nigger who love the sea, / I had a sound colonial education. / I have Dutch, nigger, and English in me, / and either I'm nobody, or I'm a nation.

Ein roter Nigger, der lieben das Meer, / Bin ich, mit echt kolonialem Diplom; / Hab Holländisch, Nigger und Englisch in mir, / Bin entweder niemand oder eine Nation.

Während der bald vierzig Jahre, die Walcott dabei ist, haben ihn Kritiker an beiden Küsten des Meeres als „westindischen Dichter aus der Karibik“ etikettiert... In diesen Versuchen, den Mann als einen Regionalschriftsteller darzustellen, wird sowohl eine geistige als auch eine geistliche Feigheit sichtbar, die im weiteren wohl, seitens der Kritikerzunft, durch die fehlende Bereitschaft zuzugeben erklärt werden kann, daß der große Dichter der englischen Sprache ein Schwarzer ist. Man kann das auch einer völlig zerstörten Ohrleiste oder einer mit Speck umwachsenen Netzhaut zuschreiben.“

Die Nicht-zur-Kenntnisnahme karibischer Literatur in Europa, vor allem aber in Deutschland, ist eklatant; der Schriftsteller und Theoretiker Eduard Glissant ist hierfür ein weiteres Beispiel. Die Region Westindien ist durch den Kolonionalismus politisch zerstückelt; die Ausrottung seiner UreinwohnerInnen, die Einschiffung von SklavInnen aus Afrika, die Zwangsansiedelung der europäischen Besatzer von Bevölkerungsgruppen aus Indien und Asien hat die Erwirtschaftung des westlichen Fetischbegriffes „Identität“ nicht eben vereinfacht. Die kulturelle „Identität“ dieser Region liegt vor allem in der Formung eigener Sprachen, die aus dem Kreolischen, dem „reinen“ Französisch, dem Pidgin-Englisch und dem Besatzerenglisch gebildet werden und andere Idiome aufnehmen. Die Vergeßlichkeit der Geschichte, die an Sprache gebunden ist, wird damit, heute erst, aufgehoben; die Lyrik markiert den Rand des Bewußtseins. „Schlagt dieses Buch auf“, schreibt Brodsky, „und seht ...den grauen, eisernen Hafen an einer Möwe / rostiger Angel sich öffnen, hört das Himmelsfenster knirschen / bei hereingewürgtem Rückwärtsgang, seid gewarnt: es wird Am Ende dieses Satzes Regen setzen. / Am Rande des Regens ein Segel...“.

Einzig übersetzt:

Derek Walcott: Das Königreich des Sternapfels.

Gedichte, aus dem Englischen übertragen von Klaus Martens. Mit einem Vorwort von Joseph Brodsky, Hanser Verlag

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen