piwik no script img

Kuinst zum Ausschneiden, 9. Folge

■ Sprich, Erinnerung, sprich

KUNST ZUM AUSSCHNEIDEN, 9. Folge

Sprich, Erinnerung, sprich

Ein Skulpturenrundgang durch die Weserburg in 13 Stationen. Heute: Boltanski.

Christian Boltanski ist der Sammler im Museum der Sammlungen. In der Weserburg werden drei Arbeiten von ihm präsentiert, die von seiner Spurensuche zeugen. Boltanskis Thema ist die Erinnerung, deren verschiedenartige Facetten er untersucht: die unbewußte, persönliche, fiktive und kollektive Erinnerung.

Die Arbeit „Réserve-Détective besteht aus ausgeschnittenen Fotos, die aus der französischen Zeitung „Détective“ stammen. Boltanski hat die unscharfen Bilder mit dunklem Klebeband umrandet und auf Pappkartons geklebt, die in primitiven Holzregalen aufgestapelt stehen. Was enthalten diese Kartons? Sind auf den Fotos Täter oder Opfer abgebildet? Die Fotos sind anonym und ebenso austauschbar wie womöglich die Rollen von Täter und Opfer.

Boltanski leistet eindringliche Erinnerungsarbeit: In dem abgedunkelten Raum vor der „Réserve-Détective“ kann den Besucher schon ein Gefühl der Beklommenheit beschleichen. Seine Gedanken werden vielleicht in Depots und Archive gelenkt. Eventuell erinnert ihn die penible Datierung auf den Kartons an die Stasiakten oder führt ihn in noch dunklere Bereiche der deutschen Geschichte zurück.

„Réserve les suisses morts“ zeigt Fotos von Todesanzeigen Schweizer Bürger, die zum Zeitpunkt der Aufnahme quicklebendig waren. Diese anonymen Toten, deren Privatfotos nun in einer öffentlichen Institution ausgestellt werden, erinnern wie zwangsläufig an die anonymen Toten der Massenvernichtung im NS-Regime. Der Betrachter steht vor den spärlich beleuchteten Biskuitdosen mit ihren Fotos im Trauerrand wie vor einer Klagemauer, fühlt sich an die „ewigen Lichter“ auf Grabstätten italienischer Friedhöfe erinnert. Boltanski bedient sich der Schwarzweiß-Fotografie, „um so auf das Vergangene, auf das, was jenseits des Lebens liegt, hinzuweisen“.

Auch im dritten Werk „Leçon de tenebres“ arbeitet Boltanski mit Fotos. Diesmal werden die Zeitschriftenbilder in Vitrinen nahe dem Boden ausgestellt, wiederum mit schwarzen Bürolampen schwach ausgeleuchtet. Wir werfen einen Blick ins Familienalbum: Bilder von Hochzeiten, Kindern, Haustieren, Ferien und Karneval werden dokumentiert und zu fiktiven Lebensläufen zusammengestellt. Jeder kann sich in diesem Album wiederfinden und seine persönlichen Erinnerungen daran festmachen. Bekannt und fremd zugleich sind einem diese Anonymen. Das tägliche Sterben in jedem Augenblick wird hier registriert. So, wie sie auf den Fotos fixiert sind, gibt es diese Menschen nicht mehr. Boltanski inszeniert sein Museum der Erinnerung.

Der Leser aber sollte wissen, daß dieser Künstler auch ein Komödiant und Clown, ein Sänger, Spielzeugbauer und Filmregisseur ist. Sein Werk ist auf irritierende Weise vieldeutig. Die dunkle Seite braucht, damit Boltanskis Schattenfiguren agieren können, lichte, zauberische Momente, die an eine Kindheit erinnern. Christine Breyhan

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen