: Rada Ivekovic: Zwischen Nationalismus und Friedensbewegung
Ich fühle mich total hilflos: Wie dieser Ungeheuerlichkeit Einhalt gebieten, wenigstens etwas tun?! Wir zufällig über die Welt verstreuten, der Misere in unseren gewesenen Republiken entflohenen ehemaligen Jugo-Intellektuellen schließen in Angst und Bedrängnis unsere Reihen und reichen einander die Brosamen der Informationen aus dem Land, wenn einer von uns dorthin reist oder wenn es einem gelingt, Briefe, Nachrichten von Sarajevo nach Zagreb, von Zagreb nach Belgrad, von Ljubljana nach Novi Sad zu schleusen (was derzeit nur über das Ausland geht). Plötzlich haben wir Wärme und Verständnis füreinander, der eine hat seine Familie in Sarajevo oder Konvali, des anderen Mutter in Belgrad braucht dringend Geld oder Medikamente. Dem einen haben sie den Bruder zur Armee geholt, dem anderen die Wohnung konfisziert oder das Haus zerstört. Der eine hat seine nächsten Angehörigen verloren, der andere wird zu Hause in der Presse als Verräter gebrandmarkt, weil er nicht in den Krieg ziehen wollte. Des einen Vater bekommt keine Rente mehr, wie denn überhaupt die häufigste Erscheinung der Mangel an Geld für das Lebensnotwendigste ist; und in den Kriegsgebieten — außer dem stets gegenwärtigen Tod — der Mangel an Lebensmitteln, Wasser, Elektrizität, an allem. Es gibt niemanden, der nicht betroffen ist. Es gibt keine Familie, die nicht gelitten hat. Wir alle fragen uns, wo wir Fehler gemacht haben, und wie es möglich war (und ob das stimmt), daß wir das Böse nicht vorausgesehen haben.
Gesehen haben wir alle in den letzten Jahren. Gesehen, und viele haben mitgemacht, ihren Beitrag geleistet. Ich gehöre zu denen, die die Schuld an diesem Krieg nicht mittragen möchten: Viele von uns haben ihn nicht gewollt. Dennoch lebten und arbeiteten wir mit jenen Intellektuellen (zwar im Streit und gegenseitigen Haß), die schon Jahre voraus den ganzen Konflikt durchdacht, ideologisch ausgearbeitet und in den Politikern (vom Typ eines Apparatschiks wie Milosevic) nur ihre Erfüllungsgehilfen gefunden haben.
Und, was noch unglaublicher klingt: Von vielen Menschen haben wir es nicht für möglich gehalten, daß sie konvertieren und ins Horn des Nationalismus blasen würden, wir haben nicht erkannt, welche Rolle sie spielen würden. Wir haben die Genese der einheimischen National-Sozialismen nicht bemerkt. Und was nun?
Diese militanten Intellektuellen gab es auf allen Seiten, und es macht wenig Sinn, die Dinge „klären“ zu wollen durch die Frage, wer denn da „angefangen“ habe — solche Fragen gießen nur Öl ins Feuer, denn sie folgen derselben manichäischen Logik: Die Schuld wird von einem zum anderen weitergereicht, da, wo es keine Unschuldigen gibt.
Natürlich sind nicht alle gleich in ihrer Schuld (das richtet sich nach dem Maß des angerichteten Schadens und der angewandten Gewalt), aber alle tragen Verantwortung. Der wesentliche „Beitrag“ der Intellektuellen (Schriftsteller, Philosophen, Akademiemitglieder, Journalistenkohorten) vor allem in Serbien war die Herstellung fundamentaler nationaler Mythen, Trost und Geborgenheit fürs Volk in einer traumatischen historischen Epoche wie der unseren: das Trauma des verlorenen einigenden Rahmens (Jugoslawien und des symbolischen Vaters), der verlorenen ökonomischen, existentiellen Sicherheit nach dem Sturz des Sozialismus und der Konfrontation mit der Marktwirtschaft (der Übergang zu dieser bringt den Bürgern nämlich große Entbehrungen selbst dort, wo es nicht zum Krieg kommt).
Ein Nationalismus tritt niemals allein auf, sondern stets „Arm in Arm“ mit dem gegnerischen, was heißt, daß die Inszenierung von Anfang an eine totale ist. Die fundamentalen Mythen ermöglichen eine Umstrukturierung und Umbenennung der kollektiven Identität (aus Gesellschaft wird Gemeinschaft).
Die Intellektuellen übernehmen hier eine führende Rolle als Propheten. Den durch die Erschöpfung der kommunistischen Ideologie entstandenen Freiraum nahm die nationale Identität ein, aber es hätte genausogut auch etwas anderes sein können. Die einzelnen finden in der Nation einen neuen gemeinsamen Nenner und ein höheres Prinzip, in dem sie sich einig, als Angehörige derselben Gruppe fühlen können, nachdem sie die frühere Gemeinschaft verloren haben. Den Mitgliedern der eigenen Gruppe, der Nation, wird man den Vorzug geben, und die Identität der Gemeinschaft entsteht wider den anderen.
Natürlich gibt dabei der Einzelne seine Identität als Bürger und Mitglied der Gesellschaft auf, und in dieser gestörten Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum liegt die Gefahr des Totalitarismus. Eine solche Beziehung (die den anderen negiert) führt geradewegs in den Krieg. Der Krieg ist die natürliche Form des entwickelten Nationalismus. Was in einem unter solchen Umständen kaum wahrscheinlichen Frieden (wo Staat und Gesellschaft noch die Gemeinschaften kontrollieren und der Staat nicht auf den Antagonismen der Gemeinschaften, sondern auf der Gesellschaft ruht) fehlen wird, ist — die Demokratie. Aber die Nation spielt bei alldem eine sekundäre Rolle. Sie dient als nachträglich, zweckbedingt markierter Identifikationspol, um Gewalt sowohl zu rechtfertigen als auch mit Sinn zu erfüllen, an sich allein ist sie kein Anlaß für Feindschaft. Es war kein bloßer Lapsus, als selbst die Mitglieder der Belgrader Opposition (allerdings der nationalistischen, sofern man diese als Opposition bezeichnen kann) von der Notwendigkeit sprachen, dem Krieg „Sinn zu geben“.
Damals ging es um den Krieg in Kroatien. Der Krieg in Bosnien- Herzegowina ist zweifelsfrei ursprünglich von einer serbischen Aggression ausgegangen, er wird über alles hinweg zwischen Serbien und Kroatien auf fremdem Territorium und um dieses Territorium ausgetragen und ist an Härte und Grausamkeit unerreicht. Der „Sinn“ des Krieges kann darum (für diejenigen, die der nationalen Massenhypnose erliegen) nur ein übergreifender, mythischer, jenseitiger, himmlischer einschüchternder Sinn sein, ein vielleicht vorerst unsichtbarer Sinn, der sich aber „eines Tages, irgendwann“ allen als allgemeine und einzige Wahrheit offenbaren wird.
Die Nation begründet, rechtfertigt und definiert sich in diesem Sinn (in völligem Autismus, in einem geschlossenen System) auf dieselbe Weise wie eine religiöse Verkündigung, als ein „höheres Prinzip“ jenseits der Systeme. Beide beziehen ihre Legitimation aus der Jenseitigkeit. Darum ist die Gewalt nicht nur „gerecht“, sondern auch notwendig für die Errichtung eines neuen Systems, der „Gerechtigkeit“ als solcher. Es geht um eine fundamentale und außerordentliche Gewalt, die jeder anderen Gewalt (das heißt der Gewalt der anderen) ein Ende setzen wird. Mit ihr beginnt eine neue Zeit, ein neues Wertsystem, errichtet auf den Ruinen des vorhergehenden und vor allem auf den Ruinen der Durchmischung und kulturellen Verflechtung mit den anderen. Daher die Zerstörung der Städte als Zerstörung der Kultur selbst — da die Kultur Geburt aus dem anderen und Leben mit dem anderen ist.
Das Prinzip der Nation bis zur äußersten Konsequenz — dem Krieg — zu treiben, ist auch eine Art Purismus. Es ist durchaus kein Zufall, daß alle kriegführenden Seiten von „Säuberung“ der Territorien sprechen. Diese monströse Rassenhygiene, der lebende Menschen zum Opfer fallen, ist nur die letzte Konsequenz des Konzepts, wonach der Unterschied ein Anlaß zur Diskriminierung und keine Quelle des Reichtums im Pluralismus ist. (Darin zeigt sich auch die ganze Unzulänglichkeit unserer achtundsechziger Parole „Es lebe der Unterschied“, nachdem sich herausgestellt hat, daß der Unterschied auch ein Anlaß für Selektion sein kann und nicht nur für das „Blühen Tausender Blumen“).
In diesen neuen Balkankriegen stehen die Intellektuellen allgemein nicht weiser und besonnener da als die anderen Gesellschaftsschichten, was keineswegs bedeutet, daß sie durchweg schuldig sind. Ebenso wie alle anderen befinden sie sich in verschiedenen Lagern, engagieren sich (je nachdem) für verschiedenste Richtungen der nationalistischen Politik, aber auch für den Widerstand gegen Nationalismus und Krieg. Dennoch ist am auffälligsten ihr Wirken an den beiden Enden der Skala: auf der einen Seite bei der bereits erwähnten (und bestürzenderweise kriegsvorbereitenden) Schaffung nationaler Mythen, auf der anderen jedoch bei den Bemühungen um eine verantwortungsvolle pazifistische Politik und Sensibilität in den Friedensbewegungen und Parteien in Sarajevo, Belgrad, Zagreb und anderswo.
Tatsächlich sind es die Intellektuellen, unter ihnen besonders die Studenten und die Jugend überhaupt, die den Ton angeben und das Gros der Friedensinitiativen in allen jugoslawischen Ländern darstellen, weshalb die „kritische Masse“ dieser Initiativen noch immer nicht ausreicht, um die autokratischen und totalitären Regimes zu stürzen, die am Krieg festhalten und ihre bewaffneten Banden aufhetzen.
In der jetzigen Situation des entsetzlichen Krieges in Bosnien-Herzegowina wird das Verhältnis zur Beteiligung der eigenen Nation am Gemetzel zur Reifeprüfung für die Intellektuellen und alle ehrlichen Friedenskräfte. Sie müssen den Rückzug der Einheiten ihrer eigenen Nation (ganz gleich, ob sie offiziell entsandt oder „nur“ paramilitärisch, das heißt „unabhängig“ sind) aus den okkupierten Gebieten und aus dem Krieg, ihre sofortige Entwaffnung und danach ein Gericht über die Kriegsverbrecher fordern. Sie müssen sich ganz allgemein aus der nationalen Logik befreien, indem sie gegen den Nationalismus und Militarismus der eigenen Nation und des eigenen Regimes vorgehen und sich für eine Demokratie einsetzen, die zugleich auch Schutz der Minderheiten vor dem Revanchismus der Mehrheit bedeutet.
Es versteht sich von selbst, daß dies vor allem in Serbien und Kroatien geschehen muß, wo der Kampf gegen den Krieg zugleich auch Kampf für Demokratie ist. Im Krieg gibt es Demokratie auf keiner der einander befehdenden Seiten. Zugleich wird das ein Kampf gegen die Ausbreitung des Krieges auf andere Territorien sein. Hier fällt den Intellektuellen und Friedensbewegten eine überaus wichtige und überaus erschwerte Aufgabe zu: im Rahmen ihrer Tätigkeit die persönlichen Kontakte und die Zusammenarbeit der einstigen jugoslawischen Republiken aufrecht zu erhalten, obwohl an einen gemeinsamen Staat nicht einmal mehr zu denken ist. Gemeinsam bleibt ihnen jedoch der geographische Raum, der eines Tages wieder passierbar, ökonomisch und kulturell operativ werden muß. Der Krieg und die Politik der Regimes in den neuen, anerkannten und nicht anerkannten Staaten haben die persönlichen Verbindungen getrennt, die nun unter großen Mühen und finanziellen Opfern über das Ausland wiederhergestellt werden. Wichtig ist, die übernationalen Verbindungen als das wertvollste zu bewahren, das uns nach der Zerstörung bleiben wird.
New York, 28.Juli 1992
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