■ Mit rechts und links kommt man in den USA nicht weit
: Ying und Yang der Politik

Den Anfang machte die New York Times, die in ihrer Berichterstattung über die amerikanischen Parteitage die ironische Frage aufwarf, woran es denn nur läge, daß die Menschen, die nach Houston zum republikanischen und nach New York zum demokratischen Parteikonvent kamen, derart grundverschieden wären. Demokraten und Republikaner unterschieden sich durch Aussehen, Kleidung, Verhaltensweise derart voneinander, daß die Handvoll demokratischer Beobachter auf dem republikanischen Parteitag sofort auszumachen waren. Könnte es nicht sein, fragte das Blatt, daß derart fundamentale Differenzen und Unterschiede den Menschen in die Wiege gelegt seien? Und das, wo doch jeder weiß, daß es die sozialen Umstände, die Erziehung, persönliche Erfahrung und Vorbilder sind, die Menschen dazu bringen, sich ihre politische Meinung zu bilden. Politik und politische Einstellungen sind zudem etwas Gesellschaftliches und nichts Natürliches, wirklich nicht?

Die Natur ist, wie wir wissen, erfinderisch und verschwenderisch und liebt Vielfalt. Sie hat aber auch einen Hang zur Paar- und Gegensatzbildung, zum binären Schematismus, zur Komplementarität. Sie schuf die meisten Kreaturen als weiblich und männlich, schuf rechte und linke Hirnhälfte mit je ausgeprägten Entsprechungs- Funktionen, bildet komplementäre Charaktere und Temperamente. Wäre es nicht denkbar, daß Menschen in ihrer Eigenschaft als Gesellschaftswesen mit komplementären Aspirationen und Energien auf die Welt und in die Arena der Politik kommen?

Amerika scheint aufgrund seiner mangelnden Orthodoxie nicht nur ein geeignetes Pflaster für eine solche, häretisch anmutende Diskussion, sondern auch ein schwieriges Terrain. Schwierig deshalb, weil die politischen Kategorien in diesem Land mit europäischen Begriffen nur schwer zu bestimmen und vielleicht überhaupt ganz anders ausgebildet sind. „Links“ und „rechts“ sind, anders gesagt, in Amerika ganz unsinnige Kategorien.

Reagan war nicht einfach rechts, sondern Revoluzzer

Nehmen wir den Fall Reagan. Er kam nicht, wie in Europa oft angenommen, auf einer konservativen Welle ins Amt. Betrachtet man neuere Umfrageergebnisse, so zeigt sich, daß Reagan nach wie vor populär ist, aber nur noch eine Minderheit rückblickend seine Amtsführung gutheißt. Das Land scheint also zwischen schlechter Politik und richtigem Versprechen zu unterscheiden. Reagan kam mit einer demokratischen Message ins Weiße Haus, und künftige Kandidaten werden sie auf eigene Gefahr hin geringschätzen. Das amerikanische Demokratieverständnis ist grundsätzlich staatsfeindlich. Demokratie meint die weitestgehende Abwesenheit von Staat. 1979 beschrieb Reagan die politische Situation so: Alle Macht hätte sich auf die Zentralregierung konzentriert, und die Verwaltungen der Bundesstaaten, der Gemeinden und Nachbarschaften wären zu bürokratischer Verlängerung der Regierung verkommen. Seine Lösung sah vor, den Fluß der politischen Macht umzukehren, den Staat in seinen Rechten, Mitteln und in seiner personellen Ausstattung zu beschneiden. Der Politik sollte so wieder jenes Menschenmaß zurückgegeben werden, das von einfachen Bürgern handhabbar wäre.

Reagans Botschaft war Antwort auf eine Ära quasi linkssozialdemokratisch anmutender Politik der Regierungen von Roosevelt bis Johnson, in der sich die Idee einer regierenden Kaste fest etabliert hatte, in der die Menschen Empfänger statt Teilnehmer geworden waren. Soziologen wie Bernard Berelson sahen die politische Abstinenz der meisten Bürger als eine Quelle der Stabilität an.

Da Reagan und Bush in der praktischen Politik nicht halten konnten, was sie versprochen hatten, liefern sie nun einem Außenseiter wie Ross Perot eine Plattform. Ihm zufolge ist das Land einer Aktiengesellschaft vergleichbar, deren Aufsichtsrat sie den Eignern aus der Hand genommen hat. Für ihn höchste Zeit, daß die Besitzer des Landes sich ihr Eigentum wiederholen. Ross Perots simple Metapher und der Zorn über ihre eigene Hilflosigkeit angesichts der Krise, in die Amerika hineinrutschte, mobilisierten Millionen hinter Perots Schlachtruf: „Take back America“.

Bewegungen also, die von Europa aus leicht der politischen Rechten zugeschlagen werden, wurzeln tief in Amerikas demokratischen Traditionen und zielen darauf ab, dem Einzelnen mehr Rechte einzuräumen und weniger Beschränkungen zu unterwerfen, sind also radikaldemokratische Bewegungen.

Wie um keinen anderen Begriff drehen sich alle politischen Diskussionen in Amerika um Steuern. Steuern sind der Schlüssel zur Bestimmung von Links und Rechts in Amerika. Das ist nicht nur eine ökonomische, sondern eine ideologische Frage. Hohe Steuern bedeuten nämlich starken Staat, bedeuten, daß der Staat durch Geldausgaben den Bürgern ihre Verantwortung abnimmt. Amerikaner verfallen dabei aber leicht einer schizophrenen Haltung, es ist ja nicht so, daß sie auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben Wert legen würden: Doch sie verlangen für jeden eigenen Dollar Steuern Regierungs- und Verwaltungsleistungen im Werte von dreien.

Die schizophrene Haltung in der Steuerfrage

Diese schizophrene Haltung bedienen zur Zeit in Amerika beide Kandidaten. Der Präsident reist durch die Lande und verspricht den Bürgern, das Regime der Besteuerung und der Geldausgaben durch die öffentliche Hand zu beenden. Gleichzeitig gibt er auf seinen Wahlkampfreisen zur Zeit etwa täglich 100 Millionen Dollar aus — Geld für die Hurricane-Opfer, für die vom Bankrott bedrohten Farmer des Mittleren Westens, für die von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeiter der Rüstungsindustrie. Clinton hingegen verspricht kostspielige Programme, etwa im Erziehungswesen, von denen er weiß, daß Amerika sie braucht und will, ohne jedoch zu sagen, wo das Geld herkommen soll.

Kein Kandidat und kein Politiker in Amerika kann es sich heute leisten, hinter die Reagan-Revolution zurückzufallen, die Amerika wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückzubringen und den starken Staat zurückzudrängen versprach. Kein Kandidat kann es sich aber leisten, die Wünsche der Bürger nach besserer Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben zu ignorieren. Wie, bitteschön, gruppieren sich da Links und Rechts?

In der Tat offeriert jede der beiden amerikanischen Parteien je eine Hälfte der Message, die Amerika hören will. Sie verkörpern das Ying und Yang amerikanischer Politik, die konträr und komplementär zugleich sind. Während die Republikaner eher auf die Dynamik vertrauen, die Amerika bisher stark und wohlhabend machte, richten die Demokraten ihren Blick auf die Gefahren, die das Staatsschiff und die Gesellschaft bedrohen. Das Gesetz der produktiven Dynamik der Natur, die immer Neues in immer größerer Vielfalt hevorbringt und das zweite thermodynamische Gesetz der Entropie, nachdem alle Energie sich letztlich verausgabt und alle Bewegung zum Stillstand kommt, waltet auch in der Politik. „Rechts“ sind die einen, „links“ die anderen, beide haben recht, und beide sind notwendig. Reed Stillwater

(z. Zt. living in the woods)