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Auch wir waren in Amerika

■ Eine Wikinger-Ausstellung im Alten Museum in Berlin

Im ohnehin schon „finsteren Mittelalter“ gehörten sie zu den Oberfinsterlingen, die Wikinger, deren Lieblingsbeschäftigungen in Mord und Totschlag, Beutezug und Saufgelage bestanden. So jedenfalls das Klischee, das sich unbeirrt bis in die Gegenwart fortgepflanzt hat. Die Wikinger — das war und blieb vornehmlich etwas für nazinahe Germanentümler mit Runen-Tonsur oder für die Brachial-Abteilung der Fantasy-Fans à la Conan der Barbar.

Eine umfangreiche Ausstellung im Alten Museum in Berlin ist nun bemüht, dieses Zerrbild zu korrigieren. Vom Europarat und dem Nordischen Ministerrat offiziell gefördert und gestützt auf eine große Zahl von Leihgaben aus den skandinavischen Ländern, aber auch aus Frankreich, England und der ehemaligen Sowjetunion, zeichnet die Ausstellung das Gesamtbild einer Kultur, der mehr als nur ein Mißverständnis nachhängt.

Der größte Teil der ausgestellten Stücke umfaßt archäologische Funde, darüber hinaus sind Kunstgegenstände und Handschriften zu sehen. Im Vordergrund stehen dabei weniger die kriegerischen als vielmehr die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leistungen der Wikinger.

Und schon beginnen die Unklarheiten: denn es handelt sich im Falle der Wikinger nicht, wie oft angenommen, um ein Volk, sondern um kleine Gruppen, mitunter aber auch ganze Heere mit einer gemeinsamen regionalen Herkunft: Skandinavien. Doch nicht alle Skandinavier gingen auf Wikingerfahrt. Umgekehrt konnte sogar ein kleinerer Verband aus einer wilden Mischung von Norwegern, Dänen und Isländern bestehen.

„Wikinger, Waräger, Normannen“— der (deutsche) Titel der Ausstellung trägt den Problemen der Terminologie Rechnung. Denn je nach mittelalterlicher Quellenlage wurden die Wikinger in den slawischen Ländern mal Waräger, mal Rus genannt (und sie stellten auch die ersten Herrschaftsgeschlechter des altrussischen Kiewer Reiches), im Westen hingegen Nor(d)mannen.

Die Eckdaten ihrer Epoche (800-1050) markieren zwei Ereignisse, die nicht nur dem Hobbyhistoriker geläufig sind: der Überfall auf das Kloster Lindisfarne 793 und der Sieg Wilhelms des Eroberers in der Schlacht von Hastings 1066. Ausgerechnet ein normannischer Nachkomme der Wikinger sorgte nun für die Sicherheit der Grenzen.

Den nachhaltigsten Eindruck hinterließen die Wikinger mit ihren weiten Expeditionen per Schiff. Schnelle Eingreiftruppen, bis unter die Helme bewaffnet, machten noch die entlegensten Regionen unsicher. Die Ausstellung illustriert diese Wikingerzüge anhand von Schiffsmodellen und Schatzfunden und macht sie durch begleitende Karten und kommentierende Texte nachvollziehbar.

Die schnellen und wendigen Schiffe erlaubten Expansionsbewegungen der Wikinger nicht nur in westlicher, sondern auch in östlicher Richtung. Kaum eine Küste, die nicht heimgesucht wurde, kein Flüßchen, das flach genug gewesen wäre, als daß nicht noch ein Drachenboot auf ihm hätte rudern können: die Britischen Inseln, die Normandie, Island und Grönland, die baltischen Gebiete, die Wolchow hinauf und den Dnjepr hinunter. Über die — nach heutigen Maßstäben — spektakulärste Fahrt mit der „Entdeckung“ Amerikas durch Erik den Roten gibt es nicht nur eine Saga, sie ist inzwischen auch durch archäologische Grabungen in Neufundland bestätigt. Sie blieb freilich folgenlos, weil keine dauerhaften Siedlungen errichtet wurden und es wirtschaftlich (noch) nichts auszubeuten gab.

Wenn man überhaut etwas bei der Ausstellung vermißt, dann ist das die stärkere Einlösung ihres Untertitels: „Die Skandinavier und Europa“. Hätte man die Wikinger über einen Beitritt zur EG abstimmen lassen, sie wären vermutlich weitaus weniger zögerlich gewesen als ihre heutigen skandinavischen Nachfahren. Ihre Berührungsängste gegenüber anderen Kulturen waren gering. Als Stützpunkte für die Beutezüge und Handelsfahrten notwendig wurden, siedelten sie in der Normandie ebenso wie an der oberen Wolga.

Die Ausstellung belegt eindrücklich diese kulturelle Anpassungsfähigkeit sowie die Bereitschaft, technisches Know-how zu übernehmen und anzuwenden. Gürtel aus finnischem Leder wurden mit arabischen Beschlägen besetzt, Schwertklingen aus Rußland in fränkischer Technik geschmiedet und dann mit nordischer Ornamentik verziert.

Aus dem gefürchteten Schlagetot war schließlich ein gerngesehener Händler und Käufer geworden. Die losen Stammesverbände schlossen sich zu feudalen Monarchien zusammen. Und so nimmt es nicht wunder, wenn die Übernahme des Christentums ohne allzugroße Widerstände verlief.

Dieser Entwicklung — und ihren Folgen — in der Zeit bis 1200 sind die beiden letzten der insgesamt sechs Säle der Ausstellung gewidmet. Sie zeigen einen „Prozeß der Zivilisation“ (N. Elias), dessen Tendenz zu stärkerer Organisation und Kontrolle sich noch auf einer anderen, reflektierenden Ebene zeigt: der Schriftkultur. Denn es entstand im 12. und 13. Jahrhundert, neben der importierten lateinischen Literatur, eine singuläre Erzählform in altnordischer Sprache: die der Sagas.

Diese Fähigkeit, sich neuen Lebensumständen anzupassen, Einflüsse aufzunehmen oder überhaupt sich ihnen zu öffnen und gleichwohl eine eigene Identität zu bewahren, zeichnet die Kultur der Wikinger aus.

Und das ist ja heutzutage nicht das Schlechteste, was sich jemandem nachsagen läßt! Thomas Fechner-Smarsly

„Wikinger, Waräger, Normannen. Die Skandinavier und Europa 800 bis 1200“. Altes Museum Berlin. Bis zum 15.11. Di.-So. 10-20 Uhr. Katalog 49 DM. (Informatives) Begleitheft 15 DM.

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