: Montaigne als Projekt
Die Essais in alter, neuer Übersetzung ■ Von Wilhelm Schmid
Wer sich mit Montaigne näher beschäftigen will, steht sehr rasch vor der Frage, welcher Übersetzung er vertrauen kann. Denn den umfangreichen Text seiner Essais auf altfranzösisch zu lesen, ist nicht jedermanns Sache. Zudem hatte man bisher bloß die Wahl zwischen Ausgaben, die allesamt nur eine vergleichsweise kleine Auswahl von Texten boten. Am meisten verbreitet sind zwei Übersetzungen: die eine von Johann Joachim Bode stammt vom Ende des 18.Jahrhunderts und ist trotz mehrerer Überarbeitungen von so miserabler Qualität, daß man sich fragt, warum sie von den Verlagen immer wieder neu aufgelegt wird. Die andere von Herbert Lüthy erschien erstmals 1953 und ist die bisher einzig brauchbare, die den französischen Text meist sehr getreu und ebenso kantig, wie er ist, wiedergibt. Allerdings ist man auch hier trotz der sehr guten Auswahl auf Auszüge angewiesen.
Genau 200 Jahre vor Lüthy, 1753, erschien eine erste deutsche Übersetzung der gesamten Essais zur Messe in Leipzig. Merkwürdigerweise verschwand diese Übersetzung dann im Dunkel der Archive und wurde erst jetzt, zum 400. Todestag Montaignes am 13.September 1992, wieder ausgegraben. Man darf das mit Fug und Recht eine verlegerische Großtat nennen, denn endlich hält man nun eine vollständige Übersetzung in Händen, die verläßlich ist und in 200 Jahren an Reiz nichts verloren hat. Der Text wurde für diese Ausgabe neu gesetzt, aber alle Besonderheiten der Schreibweise und andere Eigenheiten wie zum Beispiel die Marginalien und sogar der Seitenumbruch wurden exakt beibehalten. „Itzo mag das Publicum entscheiden“, meinte Tietz schon zur ersten Publikation seiner Übersetzung, von der er wohl nicht angenommen hat, daß sie in zwei Jahrhunderten immer noch konkurrenzlos dastehen würde. Er wollte nichts weiter, als den ganzen Montaigne dem deutschen Publikum zugänglich zu machen, so daß jeder sich seine eigene Meinung über die Auslegung der verschiedensten Stellen bilden konnte.
Das altertümlich anmutende Deutsch der Übersetzung von Tietz hat den Vorteil, den herben Charme des Altfranzösischen fühlbar zu machen, der einer moderneren Übersetzung zwangsläufig entgeht. Man kann nicht behaupten, daß Tietz wortgetreu verfährt, aber man muß es auch nicht verlangen, wo doch der Sinn des Gesagten mit so großer Klarheit wiedergegeben wird, etwa wenn Montaigne denjenigen, die immerzu nur positiv denken, entgegenhält: „Es ist ein Kennzeichen eines kleinen Geistes, oder einer Trägheit, wenn einer vergnügt ist. Kein großmüthiger Geist bleibt bey sich selbst stehen.“
Häufig nimmt Montaigne Bezug auf die Autoren der griechischen und lateinischen Überlieferung, mit denen er so vertraut ist, daß er auch mal die Anführungszeichen wegläßt, wenn er ihnen eine Sentenz entlehnt. Aber sein Herausgeber kennt sich aus in der antiken Literatur, weiß die Stellen anzugeben, wo Montaigne nur einen großzügigen Hinweis gibt, erklärt dessen Verkürzungen und korrigiert bisweilen auch die lässigen Irrtümer. Mit kurzen, überschriftartigen Sätzen in einer wunderschönen, einfachen Sprache begleitet Tietz gemäß der französischen Ausgabe den Text am Rande und macht ihn auf diese Weise für den Leser übersichtlicher. „Montagne“, wie er Montaigne nennt, um an die Abkunft des Namens vom Begriff des Berges zu erinnern. „Montagne war sehr besorgt, offenen Leib zu behalten“ — mit einer so treffenden Formulierung beschriftet er einmal eine der unzähligen Passagen, in denen von den Details der Verdauung und der Vermeidung von Verstopfung die Rede ist.
Tietz, zum Zeitpunkt seiner Übersetzung Absolvent der Leipziger Universität und späterer Professor für Physik in Wittenberg, wählt auch eine ebenso simple wie schöne Übersetzung für den Titel „Essais“: Er spricht von „Michaels des Herrn von Montagne Versuchen“. Was gewöhnlich beim französischen Begriff für deutsche Ohren verborgen bleibt, kommt so wieder zum Vorschein. Denn um Versuche handelt es sich in vielfachem Sinne: Montaigne präsentiert keine Lehre, sondern Studien, Versuche, denen gegenüber der Leser sich völlig frei fühlen kann. Er experimentiert mit der Form der Schrift und bietet seine Gedanken in einer losen, geistreichen Form, so daß seither von der Literaturgattung des „Essais“ gesprochen wird. Zugleich aber experimentiert er mit sich selbst; es kommt ihm darauf an, sich selbst zu versuchen, zu erproben und auszuprobieren.
Montaigne will Versuche in Fleisch und Blut vorführen. So werden die gedachten und geschriebenen Essais zu Versuchen und Versuchungen der Existenz. Er schreibt sie nicht so sehr mit der Feder, sondern mit der Nase im Wind. Er probiert aus, ob sie sich im Sattel halten können, wenn er mit ihnen über Stock und Stein reitet. Angenommen, das Leben ist ein Pferd, dann kommt es ebenso sehr darauf an, die Zügel anzuziehen wie sie lose zu lassen. Montaigne bringt das auf die Formel: „Man muß sich an die besten Regeln halten; aber sich ihnen nicht sklavisch unterwerfen (...) Ein junger Mensch muß von seinen Regeln zuweilen abgehen, damit er frisch, aber nicht weichlich und eine Memme wird: denn, keine Lebensart ist so thöricht und so schwächlich, als die sich nach gewissen Vorschriften und Regeln richtet.“
Die diversen Essais kommen also einer Versuchsanordnung gleich, die unablässig variiert wird, um alle möglichen Varianten des Denkens und der Existenz durchzuspielen — aus der klaren Erkenntnis heraus, daß man mit nur einem einzigen Denken und einer bestimmten Perspektive nicht durchs Leben kommt, sondern eine ganze Palette davon zur Verfügung stellen muß, um den verschiedenen Phasen, die man durchläuft, Rechung zu tragen. Montaigne betrachtet sich selbst eben nicht als ein gegebenes Faktum, sondern als ein Projekt, das zu keinem Zeitpunkt abgeschlossen ist.
Tietz hat seine Übersetzung, die von Winfried Stephan so zurückhaltend wie aufmerksam für die neuerliche Publikation betreut wurde, auf der Grundlage der großen französischen Ausgabe von Pierre Coste angefertigt und gibt in der Regel auch dessen Anmerkungen und Marginalien wieder. Allein die Übersetzungen einzelner Begriffe lohnt schon die Lektüre. Ein Wort, das Montaigne manchmal gebraucht, „consubstantiell“, um etwa die Entsprechung von Autor und Buch oder auch des Guten und Bösen zu bezeichnen, übersetzt Tietz sehr zutreffend als „mitwesentlich“. Ferner findet sich häufig dort, wo etwas Überraschendes geschieht, das Wort „überraschelt“, und der Blick in das Grimmsche Wörterbuch ergibt tatsächlich, daß das ein existierendes altes deutsches Wort war. Und wie übersetzt Tietz, wenn von „Esprit“ die Rede ist? Er meidet den tiefgründigen deutschen „Geist“ und spricht vom „Witz“, den jemand hat.
Die Bände sind ausgestattet mit dem Register, das der Übersetzer auf der Grundlage der französischen Ausgabe angelegt hat, und das eine nützliche und witzige Nachschlaghilfe ist. Auch einige Briefe Montaignes und die Biografie wurden von der französischen Ausgabe übernommen. Wer sich aber über Montaigne orientieren will, ohne gleich zur Gesamtausgabe der Essais zu greifen, kann dies in einem Band mit dem Titel „Über Montaigne“ tun, den Daniel Keel herausgegeben hat und der parallel zur Edition der Essais erschienen ist. Hier findet der Leser eine Reihe von wichtigen Aufsätzen, die einen guten Zugang zu dem französischen Denker ermöglichen. Einige interessante Texte sind nachgedruckt, wie zum Beispiel der von Max Horkheimer über „Montaigne und die Funktion der Skepsis“ von 1938, der die sozialen und historischen Hintergründe skizziert, aus denen der Skeptizismus hervorgeht.
Die Skepsis begründet die Notwendigkeit, zu einer individuellen Haltung in allen Fragen zu finden, da sie darauf verzichtet, dem großen Haufen nachzulaufen. Diese individuelle Haltung kann man eine Lebenskunst nennen. Die Zeit der großen äußeren Unsicherheit ist die Zeit, in der eine Lebenskunst erforderlich wird. Stefan Zweig ist für diesen Aspekt besonders aufmerksam. Mitten im Zweiten Weltkrieg schreibt er seinen Aufsatz über Montaigne — auch er ist hier nachgedruckt — und bekennt, daß er ihm jetzt am „hilfreichsten“ scheine, wo die Welt in Aufruhr ist: „Es mußte also, um Montaignes Lebenskunst und Lebensweisheit zu verstehen, um die Notwendigkeit seines Kampfes um das soi-même als die notwendigste Auseinandersetzung unserer geistigen Welt zu begreifen, eine Situation kommen, die der seines eigenen Lebens ähnlich war.“ Stefan Zweig schildert mit einer großen Liebe zum Detail die Person, die familiäre Herkunft, die Zeitumstände und das Denken Montaignes. Eine bessere und liebevollere Einführung kann man nicht finden.
„Montaigne muß für das deutsche Sprachgebiet neu gewonnen werden“, schrieb Herbert Lüthy im Nachwort zu seiner Übersetzung von 1953. Dem ist heute noch nichts hinzuzufügen. Was aber zugleich mit der philosophischen Beschäftigung als philologische Aufgabe bleibt, ist eine vollständige Neuübersetzung, die auf der Grundlage der kritischen Texteditionen des 20. Jahrhunderts vorzunehmen wäre. Es ist erstaunlich, daß sich daran noch niemand herangewagt hat. Wie lange wird es wohl noch dauern? — Aber seien wir nicht undankbar: Die Zeit des Wartens wird uns nun wengistens versüßt durch die Köstlichkeiten der alten, neuen Übersetzung, die uns Tietz zu bieten hat.
Michel de Montaigne: „Essais“. Übersetzt von Johann Daniel Tietz. Diogenes Verlag, Zürich 1992. 3 Bände, Leinen. 2.744 Seiten, Subskriptionspreis bis 31.12. 198 DM, danach 248 DM.
„Über Montaigne“. Herausgegeben von Daniel Keel. Diogenes Verlag, Zürich 1992. 532 Seiten, 29,80 DM.
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