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Die Pausen in den Gesprächen

Fridrik T. Fridrikssons „Children of Nature“ gibt den Alten ihre Abenteuer wieder und das Land ihrer Kindheit, den Norden einer wilden Insel, die auch ein Engel kennt  ■ Von Stefan Reinecke

Am Anfang geht etwas zu Ende. Ein Mann, der bisher Schafzüchter war, packt das Bild seiner Frau ein, beerdigt den Hund und wartet auf den Bus, der ihn die Stadt bringen soll. Jahrzehnte hat er hier gelebt, jetzt ist er zu alt. In einer Totalen sieht man ihn in berückend schöner, schroffer Natur, vor satter Wiese, flaschengrünem Meer, blaßblauem Himmel. In diesem Bild wirkt der Mann ganz und gar vereinzelt, aber auch aufgehoben, als wäre er Teil der Landschaft. Mit solch einem Bild wird der Film auch enden.

Es dauert lange, bis das erste Wort fällt. Die Tochter wohnt mit ihrer Familie in einer Trabantensiedlung. Geiri, der alte Bauer (Gisli Halldorsson), möchte bleiben, aber es gibt nichts zu sagen. Man will freundlich zueinander sein, aber die Pausen in den Gesprächen werden bleiern. Gewiß wird es ihm anderswo, in einem Altersheim zum Beispiel, doch viel besser gefallen, sagt die Tochter nach einer Weile, und dem Alten fehlt die Kraft, zu widersprechen.

Bei der ersten Besichtigung des Altersheimes fragt die Krankenschwester die Tochter: „Nimmt er Milch oder Zucker in den Kaffee?“ Stoisch und matt blickt der Alte um sich. Damit ist schon fast alles über den fürsorglichen Schrecken, die sanfte Entmündigung gesagt. Die Alten sind nichts wert, aber es ist für alles gesorgt. Das macht es um so schlimmer.

Manchmal gelingen Fridrik T. Fridriksson elegante Verknappungen. Eine Sequenz, die eine recht trostlose Weihnachtsfeier im Altersheim zeigt, endet mit einem abrupten Schnitt: Der Alte, nun mit Schiebermütze, schlendert über einen Friedhof im Frühling. In der Zwischenzeit ist nichts passiert, monatelang.

Wir ahnen, daß Geiri, der mit Stoppelbart und melancholischem Blick ausgerüstete Held, dieser komfortablen Hölle entkommen wird. In Stella, einer rebellischen, fluchtwilligen Alten (Sigridur Hagalin), findet er eine frühere Jugendfreundin. Wohin willst du?, fragt er. Fort, sagt sie. Als sie laut wird und auf den Tisch schlägt, wird sie von aufmerksamen Krankenschwestern ins Bett gebracht. Geiri schaut zu, verwirrt und voll ohnmächtigem Groll. Später schlurfen die beiden nachts durch blauglänzende Heimflure. Kein Dialog, der uns vorbereitet, kein Plan, der ausgebreitet werden muß, es geschieht, was geschehen muß. Sie stehlen einen Jeep und fahren gen Norden, in das Land ihrer Kindheit. Die Bewegung der Helden (und auch die des Films) führt aus der Stadt in die Natur, von der Verwahranstalt in die Heimat, von der Anonymität in ihre Geschichte, die mit dem Tod enden wird.

Die Lakonik der Inszenierung zerstört, immer wieder, der Soundtrack. In der Fluchtszene klingt es bedrohlich und dräuend, als wäre es ein „Tatort“. Selten war in einem Film so Disparates nebeneinandergestellt: Unbeholfenheiten neben raffinierter Verknappung, bis in Kitsch getriebene Überdeutlichkeit neben Wahrhaftem, die gekonnte, ökonomische Szene neben der überflüssigen Figur (wie zum Beispiel einem blassen, halbherzig in die Geschichte eingeführten Polizisten). Wo die Story vorangetrieben werden muß, droht gelegentlich das Absinken in Klippschul-Dramaturgie. Fridrikssons Metier ist eher das Stimmungsbild, die Landschaftsinszenierung und vor allem die überraschende, kühle Ellipse. Wahrscheinlich muß die junge, kaum fünfzehn Jahre alte isländische Kinematographie schwanken zwischen Originärem, rasch Ausprobiertem und Wiederholung des Gängigen. Und so ist „Children of Nature“ ein Film, den genießen kann, wer die Musik meist überhört, die Handlung für eher nebensächlich hält und vor allem Bilder von klarer Schönheit sehen mag.

Am Ende hat das Paar das Ziel, eine wilde, verlassene Insel im Norden, erreicht. Lustig knistert das Feuer im Ofen, wehmütig blickt Stella in die Flammen. Jugenderinnerungen sind einmontiert: Frauen bringen die Ernte ein, Männer rüsten sich für den Fischfang. Geigen klagen, ein zufriedenes Lächeln huscht über ihr Antlitz, dann stirbt Stella am Meer. Diesem Idyllbild, in dem Kindheit, Natur, Heimat und Tod zuckersüß versöhnt scheinen, folgt ein nüchterner Schnitt. Geiri trägt Stella ins Haus, er hobelt und sägt, prüft, ob die Holzbretter gerade geraten sind und tut, was getan werden muß. Später zerrt er den Sarg durch ein Meer von grünen Stauden, eine Wiese von weißem Mohn. Am Himmel hängen tiefe Nebelschwaden. Der Alte schaufelt das Grab, läßt den Sarg hinunter, und man kann spüren, welche Anstrengung das kostet.

Dann ist der Film eigentlich zu Ende. Im Epilog taumelt der Alte einen Berg hinauf, mit blutigen Füßen über spitze Steine. Oben, in einer verkommenen Fabrikhalle, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint (und in der es ziemlich Tarkowski-artig tropft), erblickt er einen Engel (Bruno Ganz), der kein einziges Wort sagt. Er tut, was getan werden muß. Und der Tod ist Erlösung. Stefan Reinecke

„Children of Nature“. Island 1992, 85 Minuten. Original mit Untertiteln.

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