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Krise drängt IGM in die Defensive

■ Der IG Metall droht angesichts der Krisenentwicklung im Lande ein schleichender Machtverlust. Das ist die Botschaft, die Franz Steinkühler gestern auf dem Gewerkschaftskongreß den Kollegen zu vermitteln..

Krise drängt IGM in die Defensive

Zum Schluß seiner Grundsatzrede auf dem Gewerkschaftskongreß der IG Metall in Hamburg gab der Vorsitzende Franz Steinkühler den Delegierten Nachdenkliches mit auf den Weg. Er warnte vor Selbstüberschätzung und gewerkschaftlichen Allmachtsphantasien. „Unseren Platz in dieser Gesellschaft müssen wir immer neu erstreiten“, mahnte er und fügte hinzu: „Und niemand sollte sicher sein, daß wir dazu in jedem Fall in der Lage sind.“ Der Hamburger Kongreß, der erste Gewerkschaftstag der Metaller im vereinigten Deutschland, könnte eine Wende in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik einläuten. Denn das stabile Gefüge der westdeutschen Gesellschaft, das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ist mit zunehmender Krisenentwicklung in Ost- und Westdeutschland gefährdet.

Steinkühler sieht die Gefahr eines schleichenden Macht- und Kompetenzverlusts der Gewerkschaft, und so benannte er vor den Delegierten die organisationspolitischen Symptome: Die Zusammensetzung der Mitgliedschaft entspreche immer noch den Beschäftigungsstrukturen der 50er und 60er Jahre. Die wachsenden Beschäftigtengruppen, die Angestellten, die Frauen, die qualifizierten Techniker und kaufmännischen Bereiche, sind trotz aller Bemühungen der Gewerkschaft um moderne Themen und professionelles Auftreten kaum bereit, sich zu organisieren. Die Modernisierungsdebatte der IG Metall in den achtziger Jahren ist durch die Wende in Ostdeutschland unterbrochen worden. Die IG Metall hat sich zwar programmatisch geöffnet, ihre Problemsicht für die ökologischen Gefährdungen und den Gegensatz zwischen Arm und Reich in der Welt erweitert. Aber die gewerkschaftliche Alltagspolitik ist davon kaum berührt.

Die engagierte Basis in den Gewerkschaften ist in den letzten Jahren dünner geworden. Und trotz eines erheblichen Anstiegs der Beschäftigten in der Metallwirtschaft in den Jahren der Hochkonjunktur hat sich die Zahl der Mitglieder in den alten Bundesländern kaum erhöht. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist geringfügig gesunken. Jugendliche und Frauen bleiben der IG Metall fern, und die Zahl der Betriebe, in denen gewerkschaftliche Vertrauensleute gewählt werden, ist in den letzten Jahren zurückgegangen.

All diese Tendenzen deuten sich erst an, haben noch keine dramatischen Dimensionen erreicht. Aber die Befürchtung, es könne sich dabei um eine grundlegende Trendwende gegen die Gewerkschaften handeln, war auf dem Kongreß in vielen Gesprächen spürbar. Die Entwicklung in anderen westlichen Industriestaaten, so heißt es, sei nicht gerade ermutigend. Und der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie trifft nicht nur die Menschen, sie trifft auch die Industriegewerkschaften, insbesondere die IG Metall.

Die Gewerkschaft hatte unmittelbar nach der Wende mit viel Geld und Engagement die gewerkschaftliche Struktur in Ostdeutschland aufgebaut. Auf 400.000 beitragzahlende Mitglieder sei der Apparat dort ausgelegt, heißt es in der IGM-Zentrale. Derzeit sind noch rund 800.000 organisiert, aber es werden weniger. Und viele von ihnen zahlen schon heute nicht mehr den vollen Beitrag, sondern den Arbeitslosenbeitrag von drei Mark. Aber auch ohne organisatorische oder finanzielle Belastungen: Die wachsende Massenarbeitslosigkeit in Ost- und Westdeutschland untergräbt die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten, verschärft auch die unter dem Deckmantel verbaler Solidarität schlummernden Interessendivergenzen zwischen ost- und westdeutschen Mitgliedern, zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen. Auch wenn Steinkühler durchaus verständnisvolle Worte für die ostdeutsche Betriebsräteinitiative fand: Die Reserve des Westapparates gegenüber den drängenden Basisgewerkschaftern aus dem Osten ist nicht zu übersehen. Die Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Gewerkschaftern aus Ost und West sind auf dem Gewerkschaftstag hinter einer scheinbaren Geschlossenheit verborgen, mit der die Attacken der Bundesregierung auf die Bindungskraft von Tarifverträgen abgewehrt werden.

All dies drängt die Gewerkschaften auch politisch in die Defensive. „Wir wissen um unsere Stärken“, meinte Steinkühler gestern in seiner Grundsatzrede und fügte hinzu: „Wir wissen auch um unsere Schwächen.“ Noch fühlt sich der IG-Metall-Chef stark genug, den Plänen der Bundesregierung über gesetzliche Tarif-Öffnungsklauseln eine massive Drohung entgegenzustellen. Hier solle die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften strategisch gebrochen werden, meinte der Gewerkschaftsführer, und: „Wir halten das für Verfassungsbruch.“

Steinkühler ließ keinen Zweifel daran, was mit diesem Hinweis gemeint war. Die Satzung der IG Metall schreibt vor, die Verfassung zu schützen. Der IGM-Chef empfahl ausdrücklich, einen Blick auf den Paragraphen zwei der Satzung zu werfen. Darin steht die Möglichkeit zum politischen Generalstreik: „Die Verteidigung dieser Rechte und der Unabhängigkeit sowie Existenz der Gewerkschaften erfolgt notfalls durch Aufforderung des Vorstandes an die Mitglieder, zu diesem Zweck die Arbeit niederzulegen.“

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