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Grenzeinsatz war unumgänglich

■ Erster Mauerschützen-Prozeß um Tötung eines Westdeutschen/ Kommandeur der Grenztruppen: Soldaten konnten Dienst nicht wählen/ Opfer war angetrunken

Berlin. DDR-Grenzsoldaten konnten in den siebziger Jahren ihren Einsatz an der Berliner Mauer und innerdeutschen Grenze offenbar nicht verhindern. Im ersten Prozeß um die Tötung eines Westdeutschen an der Mauer sagte ein Grenztruppen-Kommandeur gestern, in diesem Zeitraum seien die Wehrpflichtigen nicht darüber befragt worden, ob sie bereit wären, die Schußwaffe gegen Flüchtlinge einzusetzen. Es sei davon ausgegangen worden, daß die Soldaten von der Schußwaffe in jedem Fall Gebrauch machen.

Im ersten Mauerschützen-Prozeß, in dem Anfang des Jahres vor dem Berliner Landgericht das Urteil gesprochen wurde, war dagegen von Zeugen ausgesagt worden, daß zumindest Ende der achtziger Jahre die DDR-Soldaten den Dienst an der Grenze verweigern konnten. In dem gegenwärtig laufenden Prozeß wird dem 42jährigen ehemaligen Postenführer Klaus-Walter Kretschmar vorgeworfen, am frühen Morgen des 19. Juni 1970 den 27jährigen Heinz Müller mit zwei Feuerstößen aus seiner Kalaschnikow tödlich verletzt zu haben, nachdem dieser aus bislang ungeklärten Gründen die Berliner Mauer zwischen den Bezirken Kreuzberg und Friedrichshain in Richtung Ost-Berlin überklettert hatte.

Laut Anklage hatte Müller, der ursprünglich aus Rostock stammt, aber seit Jahren in Westdeutschland beziehungsweise West-Berlin wohnte, über zehn Stunden auf einer Besucherplattform auf der Westseite gestanden – zum Teil „halb nackt und wild gestikulierend“. Er soll stark angetrunken gewesen sein. Dem Angeklagten fiel der „Übergelaufene“, wie er Müller bezeichnete, kurz nach 1.50 Uhr erst auf, als dieser bereits die Mauerkrone überklettert hatte und im Grenzstreifen in Richtung Osten lief. Er habe einen Warnschuß abgegeben, der Mann habe sich jedoch weiterbewegt, darauf habe er dann mit Dauerfeuer geschossen.

Der Beschuldigte hatte am Dienstag, dem ersten Verhandlungstag, eingeräumt, daß er auf die weite Entfernung Müller nicht nur bewegungsunfähig schießen konnte, weil Nebel geherrscht habe und die Sichtverhältnisse schlecht gewesen seien. Andererseits sagte er, er habe den Mauerkletterer nicht töten wollen. Als er zu dem am Boden liegenden Müller gegangen sei, habe dieser zu ihm gesagt: „Ihr Schweinehunde.“

Unter Tränen sagte der gelernte Maschinenbauingenieur, daß ihn seine Vorgesetzten nicht haben sagen wollen, was mit dem Mann geschehen sei, auf den er geschossen hatte. Der Kompaniechef habe zu ihm gesagt: „Das geht dich nichts an. Das war nur ein betrunkener Türke gewesen.“ Seiner Frau und seiner Familie habe er von dem Vorfall nichts erzählt.

Zu den Motiven seiner Handlung befragt, sagte der Angeklagte: „Uns ist in der Ausbildung gesagt worden, daß der Klassenfeind aus dem Westen an der Grenze Provokationen begehen würde.“ Am Nachmittag des ersten Verhandlungstages hatte ein weiterer ehemaliger Grenzsoldat ausgesagt, es sei vorgekommen, daß Militärs der Alliierten die Grenzsoldaten provoziert hätten. So seien sie einmal mit einer „nackten Frau“ an der Grenze erschienen. dpa

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