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Katyn: Jelzin greift Gorbatschow an

■ Verhinderte der KPdSU-Chef Übergabe der Dokumente?

Warschau (taz) – „Da alle angeführten Personen unnachgiebige und unversöhnliche Feinde der sowjetischen Macht sind, erachtet es der NKWD der UdSSR für unerläßlich, ihnen auf dem Spezialweg die Höchststrafe – Tod durch Erschießen – zuzumessen.“ Dieser Satz, unterschrieben von allen Mitgliedern des Politbüros unter Stalin im März 1940, wurde zur Grundlage für die Erschießung von 25.700 polnischen Kriegsgefangenen in Weißrußland und der Ukraine, deren Leichen dann zum Teil von der deutschen Wehrmacht 1943 bei Katyn gefunden wurden. Der entsprechende Befehl befand sich in einer Sonderakte mit der Aufschrift „Niemals öffnen“ im Archiv des Politbüros und wurde später in die Kanzlei des russischen Präsidenten überführt. Am Mittwoch überbrachte nun ein Sonderkurier von Boris Jelzin Polens Präsident Walesa Kopien der Dokumente.

„Niemand wird mehr lügen können“, titelt am Donnerstag eine Warschauer Tageszeitung. Jahrzehntelang hatten sowohl die sowjetischen als auch die polnischen Kommunisten bestritten, daß die UdSSR für die Ermordung der polnischen Offiziere in Katyn verantwortlich sein könnte. In offiziellen Publikationen war stets der deutschen Wehrmacht die Schuld für das Massaker zugewiesen worden. Nach dem Auffinden der Leichen 1943 durch die Wehrmacht hatte die Sowjetunion die diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London abgebrochen, da diese eine Aufklärung durch das Rote Kreuz gefordert hatte.

Kommentatoren in Polen äußern allerdings nicht nur Genugtuung darüber, daß eines der düstersten Kapitel der polnisch-sowjetischen Geschichte nunmehr abgeschlossen werden kann. Gleichzeitig interpretieren sie Jelzins spektakulären Schritt auch als Maßnahme im Kampf des russischen Präsidenten mit Michail Gorbatschow. Jelzins Kurier in Warschau erklärte, Gorbatschow habe von den Dokumenten gewußt, sie aber nicht veröffentlicht. Die Gazeta Wyborcza indessen berichtet unter Berufung auf gut informierte Kreise, russische Unterhändler hätten seit geraumer Zeit Polen dazu bewegen wollen, die KPdSU offiziell wegen Katyn an den Pranger zu stellen. Man habe sich angeboten, die notwendigen Dokumente zur Verfügung zu stellen. Dies stehe im Zusammenhang mit den Versuchen des russischen Präsidenten, die KPdSU als verbrecherische Organisation vom Obersten Gerichtshof verbieten zu lassen, nachdem sie bereits nach dem Putsch aufgelöst worden war.

Tatsächlich hat Jelzin inzwischen den Antrag gestellt, die Katyn-Dokumente als Beweis zuzulassen. Gorbatschow dagegen weigert sich, in dem Prozeß als Zeuge auszusagen. Nach den jüngsten Angriffen ließ er nun erklären, daß er die Materialien nicht „wissentlich zurückgehalten“ habe: Die Mappe mit Geheimdokumenten habe er erst am Tag der Machtübergabe an Jelzin gesehen. Klaus Bachmann

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