: Düstere Aussichten für Slowakei nach der Scheidung
■ Industrieproduktion sank in zwei Jahren auf die Hälfte/ Präsident Meciar hat keine Skrupel bei Rüstungsgeschäften/ Krone bleibt bis Juli 1993 Zahlungsmittel
Berlin (taz) – Noch im Juni feierten die Slowaken euphorisch ihren Wahlsieger Vladimir Meciar. Der bullige Mann aus Bratislava hatte sich eine von Prag unabhängigere Politik gewünscht – und zwar weder aus nationalistischen oder zwingenden politischen, sondern allein aus ökonomischen Motiven. Ein selbständiger slowakischer Staat, so Meciars Überlegungen, könne das Tempo des wirtschaflichen Umbaus selbst bestimmen. Nun, ein halbes Jahr später, wird die Trennung der Tschechoslowakei vollzogen. Doch ob Meciars Rechnung damit aufgeht, ist mehr als fraglich. Die Loslösung der slowakischen Teilrepublik werde katastrophale Folgen haben, orakelte Dusan Paulik, Vizepräsident der größten slowakischen Bank Vseobecna Uverova.
Denn zwischen dem reicheren Böhmen und Mähren sowie der ärmeren Slowakei tut sich schon heute eine unübersehbare Wohlstandskluft auf. Und nicht nur das: Die kleine Republik unterhalb der Tatra steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Industrieproduktion ist innerhalb von zwei Jahren um über die Hälfte gesunken, die Arbeitslosenquote lag Ende Juni bei offiziell 11,3 Prozent – und die Tendenz zeigt weiter nach unten.
Daß die Arbeitslosigkeit im tschechischen Teil mit 2,7 Prozent weit geringer ist, liegt vor allem an der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur: Bereits vor der Gründung der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg war Böhmen das industrieelle Kernland der Habsburger K.u.k-Monarchie gewesen. Die Slowakei blieb dagegen als Agrarland zur Rückständigkeit verdammt. Erst nach 1948, als die Kommunisten in Prag an die Macht kamen, schaffte die Slowakei den Sprung ins 20. Jahrhundert: Eine massive Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild setzte ein, bezahlt von den tschechischen Brüdern und Schwestern. Monströse Kombinate für die Schwer-, Chemie- und Rüstungsindustrie wurden aus dem Boden gestampft, die, orientiert an den Bedürfnissen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), vor allem als Zulieferer in den tschechischen Westen und die UdSSR fungierten. Der Zusammenbruch der Comecon-Märkte traf die Betriebe mit voller Wucht.
Vor allem die großen slowakischen Waffenschmieden, als weltweit siebtgrößte Exporteure jahrelang die Hoflieferanten des Warschauer Pakts, hatten massive Umstrukturierungsprobleme. Noch 1988 hatte die CSSR eine Milliarde US-Dollar aus den Waffenexporten geschöpft. Doch diese Zeiten sind längst passé: Die Rüstungsproduktion, in der vor der Wende jeder vierte slowakische Industriearbeiter beschäftigt war, brach gleich um drei Viertel ein; die Gewinne schrumpften auf ein Zehntel zusammen. Zudem hatte die Prager Regierung ihre Subventionen zusammengestrichen. In der Rüstungsregion im Vah-Tal grassiert die Arbeitslosigkeit.
Die slowakische Rüstungslobby versucht, die Profite zu stabilisieren. Experten fürchten, daß die Slowakei versuchen wird, die Wirtschaft über Rüstungsexporte zu sanieren. In Meciar haben die Unternehmen, im Gegensatz zum früheren Staatspräsidenten Vaclav Havel, einen Fürsprecher gefunden, den bei Waffengeschäften keinerlei Skrupel plagen. „Was sollen wir mit den Betrieben machen?“ lautet denn auch Meciars liebste rhetorische Wendung, die sich nicht allein auf die maroden Rüstungsschmieden bezieht. Die Antwort liefert er selbst: Die Slowakei könne den Crash-Kurs des tschechischen Ministerpräsidenten Vaclav Klaus nicht weiter mitmachen. Und da in dem gemeinsamen Republikengebilde keine eigenständige Wirtschaftspolitik möglich sei, brauche es eben einen eigenen Staat. Ein heftiger Streitpunkt ist dabei die Privatisierung der Betriebe: Die Slowaken sträuben sich gegen die tschechische Variante, über Kupons das Vermögen unter das Volk zu streuen. Sie setzen lieber auf den direkten Verkauf – oder, falls sich kein Käufer findet, auf weitere staatliche Subventionen. Vor allem aber will man ausländische Investoren ins Land lotsen, die mit Steuergeschenken bis hin zum vollständigen Erlaß von Abgaben angelockt werden sollen. Die Strategie verspricht sogar Erfolg: Die Slowakei ist wegen der niedrigen Lohnkosten und dem relativ hohen Ausbildungsniveau für westliche Firmen nicht ohne Reiz.
Doch bis Kapital fließt, muß erst einmal vorgeschossen werden. Die Eigenstaatlichkeit wird die Slowaken nämlich teuer zu stehen kommen: Eine eigene Währung und der Aufbau einer Zentralbank dürften 15 Milliarden Kronen, die Armee über 60 Milliarden verschlingen, rechnete das CSFR-Außenhandelsministerium vor. Die Kosten für den Ausbau der Infrastruktur, die Restrukturierung der Energiewirtschaft sowie für notwendige struktur- und industriepolitische Aufgaben sind nicht einmal zu beziffern.
Für die Slowakei wird denn auch die Ausgestaltung der Scheidungsverträge von entscheidender Bedeutung sein. Die ökonomischen Verflechtungen der beiden Landesteile sind seit jeher eng, und die Slowakei muß befürchten, nach einer Spaltung volkswirtschaftlich auf der Strecke zu bleiben. Schätzungsweise zwei Drittel der slowakischen Wirtschaft sind von Lieferungen aus Böhmen und Mähren abhängig, während die Slowakei nur ein Zehntel ihrer Produktion in die tschechische Teilrepublik liefert. Würden die Tschechen Zölle auf ihre Exporte in die Nachbarrepublik schlagen, hätte das für die dahinsiechenden Industriekonglomerate und die slowakischen Finanzen fatale Folgen – beide würden schnell in tiefrote Zahlen schlittern. Die Slowakei, die mit ihren 5,3 Millionen Einwohnern rund ein Drittel der CSFR-Bevölkerung stellt, trägt zudem nur 20 Prozent zu den Exporten des Landes bei. Die Loslösung von Prag, urteilten übereinstimmend gleich drei von beiden Regierungen in Auftrag gegebene Studien, würde der Slowakei hohe Defizite in der Handelsbilanz und im Budget bescheren.
Sichtlich erleichtert konnte Meciar am letzten Wochenende nach einem Regierungstreffen in der Nähe von Prag verkünden, der Warenaustausch bleibe auch im kommenden Jahr unbehindert. Auch die tschechoslowakische Krone soll vorerst gemeinsames Zahlungsmittel bleiben. Ab dem 31.Juni 1993 wird es dann zwei Währungen geben. Über eines waren sich beide Seiten aber einig: Die Trennung dürfe nicht in einen Wirtschaftskrieg ausarten. Erwin Single
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