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Tanz der Missionare

Musik aus der Maschine: ein Buch über die totale Codierung des Rohstoffs Musik  ■ Von Ulrich Schmidt

Rick Wright, Keyboarder bei Pink Floyd, mußte sich anfangs für jeden Klang, den er auf seinen analogen Synthesizern „speichern“ wollte, ein neues Gerät kaufen. Die entsprechenden Einstellungen wurden jeweils mit Klebeband fixiert. Zeitweise hatte Wright 16 „Mini-Moogs“ in Gebrauch. „Welcome to machine“, sangen die Pink Floyd damals. Und das meinten sie durchaus nicht ironisch.

Einen qualitativen Sprung in dieser Entwicklung gab es erst gegen Ende der sechziger Jahre, mit der Einführung mehrspuriger Tonbandgeräte. Instrumente, Klänge und Stimmen konnten zu unterschiedlichen Zeiten und Orten aufgenommen und der Tendenz nach beliebig neu zusammengeführt werden.

Das „Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band“-Album der Beatles führte beispielhaft die neuen Möglichkeiten vor, die bereits in einer Vierspur-Bandmaschine steckten. Später folgten 16- und 32-Spur-Geräte, durch die eine immer komplexere polyphone Bearbeitung des akustischen Materials möglich wurde, etwa durch das sukzessive Aufnehmen der getrennten Spuren, das sogenannte „Overdubbing“. Bis zum Exzeß trieb es Mike Oldfield mit seinen 1973 veröffentlichten „Tubular Bells“, einer Platte, für die er im Alleingang zehn Instrumente in über 2.500 Overdubs aufnahm. „Tubular Bells“ (von denen übrigens gerade eine Neufassung auf den Markt gekommen ist) hielt sich sechzehn Monate auf Platz eins der britischen Charts, und ihr Erfolg war „sicherlich zum Teil in der Faszination der vielschichtigen Instrumentierung und der unterschiedlichen akustischen Räume begründet“.

So jedenfalls mutmaßt Peter Bickel, Autor eines faszinierenden kleinen Buches über die „Musik aus der Maschine“. Weiter heißt es dort: „Etwa ab dem Zeitpunkt der eben beschriebenen Mehrspurtechnik wurden Dopplungen (besonders des Gesangs!) zum Standard, da so ein mächtigerer und breiterer Klang erzielt werden konnte. (...) So benutzte Michael Jackson für die Aufnahme seines ,Bad‘-Albums drei 32-Spur-Slaves; er hatte also nur für den Gesang (!) 96 Spuren zur Verfügung.“

Seit dem Einsatz der Computertechnik sind der musikalischen Produktion — und vor allem der Nachbearbeitung — kaum mehr Grenzen (außer denen des Speicherplatzes) gesetzt (wobei letzterer etwa noch bei der digitalen Datendirektübertragung Probleme bereitet). Zugleich ließ sich dadurch die Produktion populärer Musik in einem enormen Umfang rationalisieren. Heute genügen simple Bedienungsoperationen, um die in binären Zahlen und Sequenzen von Elementaroperationen zerlegten und gespeicherten Klanginformationen aus den eingebauten Sounddatenbänken beliebig abzurufen — „und wenn ich diese Taste drück', spielt er ein kleines Musikstück“, leierten die Männer von Kraftwerk.

Tasten wie etwa die des DX7- Synthesizers von Yamaha, der bereits 1983 auf den Markt kam und bis heute die populärste digitale Musikmaschine ist. Das Gerät ist zwar schwer zu programmieren — etwa zwei Drittel der DX7-Anwender versuchen das deshalb erst gar nicht —, aber die Fülle von eingebauten Werksounds sind überaus schnell abzurufen.

Und wie im Kleinen, so auch im Großen: Die Produzenten von Popmusik bedienen sich heute, unterstützt von spezieller Kompositionssoftware, nach Belieben an den melodischen und rhythmischen Informationen aus den musikalischen Datenbänken. „Die Musikindustrie“, so Bickel, „die bisher nur den Bedarf nach bereits fertigen Produkten (...) befriedigen konnte, gewinnt mit der Möglichkeit totaler Codierung des Rohstoffs noch umfangreichere Ausbeutungsmöglichkeiten der Musik. Speziell die Gruppe der ,Haus- und Heimmusiker‘, die bislang lediglich mit Noten versorgt werden konnte, kann nun noch spezifischer und folgenreicher angesprochen werden.“

Bickel spielt auf einen Widerspruch an, der zugleich charakteristisch ist für die entwickelte industrielle Massenkultur: Einerseits gibt es einen Zuwachs an kreativen Möglichkeiten für die Professionellen, besonders aber für die Masse der Hobbymusiker — die Technik ist immer einfacher zu handhaben, wenn man so will, ein Demokratisierungsprozeß. Dieser ist jedoch — und nirgendwo sonst wird das so deutlich wie auf dem Musikmarkt — zugleich Bestandteil einer Entwicklung, die Bertolt Brecht als „Abbauproduktion“ beschrieben hat. Gemeint hat er damit den zunehmenden Zerfall der Einheit zwischen „Schöpfer und Werk, Sinn und Fabel“ und die massenhafte Vermarktung dieser Einzelbestandteile. Bei heute vertriebener musikalischer Hard- und Software ist obendrein eine immer stärkere Abdichtung gegenüber den kreativen Manipulationen der Konsumenten an der Tagesordnung.

Bickels Studie erschöpft sich jedoch nicht in derartigen kulturkritischen Reflexionen — auch wenn kein Weg an der Frage nach dem Stellenwert von Begriffen wie „Werk“ oder „Original“ auf dem erreichten Niveau umfassender binärer Codierung von Kulturwaren vorbeiführt. Das Buch wirft vielmehr ein Schlaglicht auf einen neueren Abschnitt der Kunst- und Musikgeschichte, einer Geschichte, die nur noch geschrieben werden kann, indem sie auch als Technikgeschichte begriffen wird. Bickel macht dabei auch vor (wenngleich spärlichen) Ausflügen ins Zeitgenössische nicht halt. Beispiel: HipHop von De La Soul. Die Basis aller De La Soul-Stücke bilden „Sample-Patterns“ (das sind digital gespeicherte Soundelemente), „die durch präzises Looping (das heißt Schleifenbildung) den Eindruck einer spielerischer Stetigkeit vermitteln.“ Der künstlerische Prozeß besteht in der Auswahl und „uneigentlichen“ Kombination der gesampelten Musikpartikel aus den unterschiedlichsten Quellen der Musikgeschichte (etwa ein James-Brown-Schrei, Heavy-Gitarren, Bläser, Applaus, etc.).

„Parodie“, schrieb Theodor W. Adorno in seiner „Philosophie der neuen Musik“, „heißt etwas nachzumachen und durchs Nachmachen verspotten“; das sei die Grundform aller „Musik über Musik“. Nichts anderes tun De La Soul, und zwar mit gehöriger Respektlosigkeit. Allerdings mutmaßt Adorno auch, es sei gerade diese Haltung, die „der Regression sich“ einfüge: „Wie ein Kind Spielzeug demontiert und dann mangelhaft wieder zusammensetzt, so benimmt die infantilistische Musik sich zu den Modellen. Etwas nicht ganz Domestiziertes, ungebändigt Mimetisches, Natur gerade steckt in der Unnatur: so mögen Wilde einen Missionar tanzen, ehe sie ihn fressen.“

Die Zivilisation, meint Adorno, erlaube Nachahmung eben nur als „Verstümmelung“ und „Versimpelung“. Erkennbar sei diese Art der Musik über Musik an der Unterschlagung ihrer Quellenangaben. Doch hier irrt der Musikphilosoph. Technisch und ästhetisch avancierte Popmusik, nach dem Muster von De La Soul zitiert, heute zwar nach wie vor verstümmelnd, aber immerhin mit den zugehörigen Anführungszeichen: „De La Soul“, so korrigierend Peter Bickel, „stellen die Herkunft ihrer geloopten Musikpartikel sogar noch deutlich heraus, indem sie mit Vorliebe als Quellenmaterial extrem verkratzte Schallplatten benutzen. Durch die Wiederholung des Kratzers an immer derselben Stelle des Taktes ist die Nachbearbeitung durch das Looping noch auffälliger.“

Gruppen wie De La Soul tanzen ihre Missionare schon lange nicht mehr, sondern bringen sie selbst zum Tanzen. Gefressen werden sie trotzdem.

Peter Bickel: „Musik aus der Maschine: Computervermittelte Musik zwischen synthetischer Produktion und Reproduktion“. Berlin, Edition Sigma Bohn, 1992. 148 Seiten (kartoniert), 32,80DM.

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