■ Zum Ende des chinesischen Parteitages: Ideologisches Vakuum
Die Landkarte an der Wand einer kleinstädtischen Grundschule wies den Kindern den Weg nach Taiwan: Zwischen dem chinesischen Mutterland und der abtrünnigen Insel war eine Linie eingezeichnet. Daneben in roter Farbe der Anfang einer zweiten Linie. Jede Woche wurde die Distanz, die die Kinder allmorgendlich im Dauerlauf um den Schulhof zurücklegen mußten, zusammengerechnet und dieser zweiten Linie zugefügt. So näherten sie sich, zumindest auf der Landkarte, Kilometer um Kilometer dem kapitalistischen Taiwan.
Das war vor zehn Jahren. Das Laufen der Kinder hat sich gelohnt, die Insel ist näher gerückt: Taiwanesische InvestorInnen tragen erheblich zum wirtschaftlichen Wachstum und höheren Lebensstandard auf dem Festland bei. Auch Deng Xiaoping kann sich heute preisen: Das Vorbild des „asiatischen Tigers“ Taiwan ist nicht nur innerhalb der Partei, sondern auch bei vielen chinesischen Intellektuellen noch als Zukunftsvision akzeptiert. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein System „chinesischer Prägung“, das seinen Wohlstand einem staatlich gelenkten Kapitalismus unter Führung einer Partei verdankt, die bis vor kurzem jede politische und gewerkschaftliche Opposition mit aller Härte zu unterdrücken vermochte.
Nun geht es für die chinesische Partei also darum, ihren BürgerInnen schmackhaft zu machen, daß das Versprechen auf Wohlstand mit größerer sozialer Unsicherheit erkauft werden muß. Es reicht nicht, die „sozialistische Marktwirtschaft“ als „Sozialismus chinesischer Prägung“ zu verkaufen und darauf hinzuweisen, daß Marx auch schon an der Börse spekuliert hat. Für die meisten ChinesInnen war „Sozialismus“ bislang die Partei, und die Partei der Staat. Das soll nach dem Willen der Pekinger Führung auch so bleiben. Doch es wird schwieriger.
Bisher wurde die — zwar einengende, aber zugleich Werte und Gewißheiten liefernde — patriarchale Fürsorge der Machthabenden versprochen und erwartet. Praktisch hieß das: der Schutz vor Arbeitslosigkeit, Inflation und Bedrohung durch organisierte wie individuelle Kriminalität.
Im Zentrum der Argumentation der sogenannten „konservativen Hardliner“ in der Partei liegt daher die Furcht vor sozialen Unruhen, die ein Ende der so verstandenen Fürsorge durch die Partei nach sich ziehen wird — und damit ein Ende der Partei. Dagegen setzen Deng und die Reformer weiter auf die Effektivität des staatlichen Repressionsapparates. Vielleicht funktioniert dies für einige Zeit, wie ja auch in Taiwan, Südkorea und den Stadtstaaten Singapur und Hongkong zu sehen. Längerfristig wird dieses ideologische Vakuum jedoch eine neue Opposition hervorbringen. Jutta Lietsch
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