Bolleröfen gegen Minusgrade

■ In Lettland steht die Enrgieversorgung vor dem Kollaps. In einigen Städten wurden Wasser und Gas zeitweise abgestellt. Regierung empfielt Improvisation

Riga (taz) – Als der lettische Premierminister Ivars Godmanis in diesem Frühjahr erklärte, aufgrund mangelnder Energieressourcen müßten die Einwohner seines Landes im kommenden Winter womöglich auf die Zentralheizung verzichten und mit Bolleröfen vorlieb nehmen, war man in der Baltenrepublik zunächst geneigt, dies bloß als eine Art publikumswirksamen Schreckschuß angesichts einer zugegebenermaßen dramatischen Lage aufzufassen. Nach einer kurzen, aufgeregten Debatte geriet die Äußerung in Vergessenheit, und der warme Sommer tat ein übriges, um die Gedanken an die kalte Jahreszeit fürs erste zu verdrängen.

Mittlerweile kursiert jedoch der Entwurf eines Regierungsbeschlusses zur Wärmeversorgung der Bevölkerung durch die zuständigen Rigaer Amtsstuben. Im einzelnen ist darin vorgesehen, bei einer weiteren Zuspitzung der Energiekrise die Zentralheizungen in Ballungsgebieten abzustellen. Wo – wie in Altbauten – noch Küchenherde oder Kachelöfen vorhanden sind, sollen die Einwohner dann auf diese zurückgreifen. Ansonsten aber soll in jeder Wohnung ein mit Holz und sonstigem brennbaren Material beheizbarer Bollerofen aufgestellt werden.

Schiere Verzweiflung scheint dieses Dokument diktiert zu haben, demgemäß strotzt es nur so von Ungereimtheiten. Man stelle sich etwa die neunstöckigen Wohnblocks in den Neubaugebieten vor, wo aus jedem dritten Fenster ein qualmendes, funkensprühendes Ofenrohr herausragt – ein feuertechnisches Vabanque-Unternehmen sondergleichen. Oder das logistische Problem, eine Millionen-Stadt wie Riga mit Brennholz zu versorgen – angesichts ständig steigender Benzinpreise.

In der Tat sieht sich Lettland mit einem gigantischen Energiedefizit konfrontiert. Wie sich die Regierung Godmanis von der zuständigen Parlamentskommission vorrechnen lassen mußte, sind von den benötigten 650.000 Tonnen Heizöl für den kommenden Winter bislang nur 115.000 Tonnen beschafft worden. Aufgrund von finanziellen Engpässen ist eine avisierte Lieferung von weiteren 250.000 Tonnen zum 1.Oktober nicht eingetroffen. Bei Steinkohle ist mit 108.000 Tonnen nicht einmal die Mindestreserve von 250.000 Tonnen gedeckt; vom zu erwartenden Gesamtjahresverbrauch in Höhe von 780.000 Tonnen ist bisher nur etwa die Hälfte bereitgestellt worden. Allein im Gasbereich scheinen die Vorräte einigermaßen über den Winter zu reichen.

Dem für die Energieversorgung zuständigen lettischen Staatsunternehmen „Latvenergo“ macht vor allem zu schaffen, daß der Erzeugerpreis für eine Gigakalorie Wärme auf über 2.200 Rubel hochgeschnellt ist, weil sich russische Importbrennstoffe wie Heizöl, Steinkohle und Gas rasant verteuert haben. Dem gegenüber steht der derzeit gültige, staatlich festgelegte Abgabepreis von 19 Rubel für besagte Einheit. Doch auch bei diesem Preis können viele gewerbliche Großabnehmer nicht mehr zahlen; seit dem Zusammenbruch der Planwirtschaft stehen sie unmittelbar vor dem Bankrott oder sind zahlungsunfähig geworden. Infolge dessen steht „Latvenergo“ selbst mit 1,1 Millarden Rubel in der Kreide und kann bereits erfolgte Lieferungen nicht mehr bezahlen, geschweige denn neue Energieträger einkaufen. „Latvenergo“ wollte zwar bereits neue, kostengerechte Tarife einführen, konnte sich jedoch mit dem Stadtrat von Riga nicht einigen. Das Unternehmen hatte deshalb zum 24. August die Warmwasserversorgung der Hauptstadt ganz einstellen wollen. Der angedrohte Schritt konnte in letzter Minute durch einen vorläufigen Kompromiß abgewendet werden, der den Bürgern Rigas bloß am Wochenende ein heißes Bad zugesteht.

Das zeitweise Abstellen des Warmwassers verblaßt allerdings zur bedeutungslosen Angelegenheit, wenn es um das Beheizungsproblem geht. Um in diesem Bereich die Kosten zu decken, müßten statt der bisherigen 50 Kopeken pro Kubikmeter mehr als das Hundertfache, sprich 53 bis 54 Rubel verlangt werden, verlautete jüngst aus dem Rigaer Stadtrat. Bei einer Dreizimmerwohnung käme dabei eine Rechnung von 8.000 Rubel für die kommende Heizperiode zustande. Bei einer Mindestrente von 2.000 Rubel, einem Minimallohn von bloß 1.500 Rubel und selbst einem durchschnittlichen Industriesalär von etwa 5.000 Rubel ginge dies weit über die finanziellen Möglichkeiten der meisten Bürger hinaus. Die Alternative dazu – gewaltige staatliche Subventionen – verbietet sich wiederum durch die strengen Kreditauflagen der Weltbank und des IWF. Für welche Möglichkeit sich die lettischen Politiker entscheiden, ist nicht abzusehen, denn für März 1993 sind Parlamentswahlen angekündigt. Und die Gunst der Wähler verspricht keine der Alternativen.

Allerdings hat Premier Godmanis dem erstaunten Fernsehpublikum verkündet, die Sache mit den Bolleröfen sei als pure Allegorie zu verstehen. Ganz und gar nicht literarisch zumute sein dürfte es hingegen den Einwohnern mehrerer großer Wohnanlagen in ländlichen Städten wie Valmiera, Valka und Madona: seit Anfang Oktober müssen sie nämlich auf warme Mahlzeiten weitgehend verzichten. Grund: Die Gasvorräte der lokalen Energieversorgungsunternehmen sind erschöpft, Ersatz ist noch nicht beschafft. „Es bestehen keine Hoffnungen, daß sich in den nächsten Wochen daran etwas ändert“, lautet die düstere Prognose des Verantwortlichen in Valka. „Ich hege da keine Illusionen.“ rob