: "Nur einfach ganz normal leben"
■ Ausgegrenzt, diskriminiert, bemitleidet - noch immer das Schicksal der 173 000 schwerbehinderten Menschen, die in Hamburg leben. taz-Redakteur Marco Carini portraitiert zwei von ihnen: im täglichen Kampf...
„QRZ Columbus-4-Mobil“ nuschelt Klaus Fromheim in das flache Mikro, das ihm sein Betreuer zwischen die Finger geklemmt hat. „Columbus-4-Mobil“, klärt der 40jährige mich auf, ist sein Rufname in der Welt der CB- Funker, „QRZ“ heißt: „Sie werden gerufen von...“ Die Lockrufe quittiert das Funkgerät nur mit einem eintönigen Rauschen. Vielleicht hat niemand sie gehört, vielleicht aber hat ein Empfänger Klaus einfach nicht verstanden. Klaus ist Spastiker. Durch seine Lähmung ist er körper- und sprachbehindert.
Nur mit äußerster Anstrengung formen Zunge und Lippen Töne zu verständlichen Worten. Ganze Silben bleiben verschluckt. Oft kappen die Funker, die Klaus angepeilt hat, deshalb einfach den Draht. Nicht immer hat er Lust, sein Gegenüber über die Ursache der undeutlichen Aussprache aufzuklären. Dann erzählt er, daß er einen im Tee hat. „Ich mach mir halt 'nen Spaß aus meiner Behinderung.“
Die Lähmung fesselt Klaus an den Rollstuhl, den er zur mobilen Funkstation hat umbauen lassen. Die kleine Funke ist an die rechte Armlehne angeschraubt, hinter dem Rückenpolster ragt eine fingerdicke Antenne in die Höhe. Klaus ist, was in der Amtssprache Pflegefall heißt. Seine Eltern, bei denen er heute noch lebt, müssen ihn anziehen, waschen und auf die Toilette bringen. Um ohne Hilfe zu essen, muß er seinen Kopf fast neben den Teller legen.
Wenn er rauchen will, muß ihm jemand die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger der weniger gelähmten linken Hand klemmen und ihm Feuer geben. Die beiden Finger sind mit Brandblasen übersät. Manchmal bekommt Klaus seine spastisch verkrampften Gliedmaßen nicht schnell genug auseinander, um eine heruntergeglommene Roth-Händle rechtzeitig in den Aschenbecher fallen zu lassen. Dann brennt sich die Glut langsam in seine Haut. „Rauchen ist eben ungesund“, sagt er und läßt sich eine neue Zigarette anzünden.
Als Kind habe ihn seine Lähmung nicht gestört, erinnert sich Klaus: „Ich dachte, das gehört dazu.“ Seine Eltern haben ihm nie das Gefühl gegeben, anders zu sein als seine beiden Brüder und seine Schwester. „Erst in der Pubertät wurde mir schmerzlich bewußt, was Behinderung bedeutet“, erinnert sich Klaus. Das war, als seine Freunde und Geschwister auf ihrem ersten eigenen Mofa durch die Gegend knatterten. Es begann die Zeit, in der er lernen mußte, seine Grenzen zu akzeptieren.
Gern hätte er mit körperlicher Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient, als Maurer oder Seemann. Stadtdessen nimmt er heute sieben Stunden täglich in der Telefonzentrale der Elbe-Behindertenwerkstätten in Hamburg-Hausbruch Anrufe entgegen und verteilt sie weiter. Er würde lieber eine Schreibarbeit machen, die ihn mehr fordert. Nur nicht stehenbleiben. Als ihm ein Werkstatt-Gruppenleiter einmal eine Arbeit nicht zuteilte, die Klaus sich zugetraut hätte, trat er einfach in den Streik. Heute ist er Interessenvertreter der in der Werkstatt arbeitenden Behinderten, setzt sich für ihre Belange ein und setzt sie oft auch durch. „Ich zeige den Leuten, wo es lang geht“, sagt er und fügt hinzu: „Veralbern lasse ich mich nicht.“
Auch nicht von den beiden pubertierenden Mädchen, die ihn neulich vor einem Kino beobachteten, tuschelten und immer wieder zu lachen anfingen, über seine spastische Unbeholfenheit. Ein paar Minuten hat er sich das angeschaut. Dann nahm er mit seinem Rolli Kurs auf die beiden. Hat einfach mitgelacht. „Die sind knallrot angelaufen und haben blitzschnell das Weite gesucht“, schmunzelt Klaus.
Er wird wütend, wenn ihn jemand nicht für voll nimmt. Wenn er zum Beispiel mit einem Freund Klamotten für sich einkaufen geht und der Verkäufer nur seinen Begleiter fragt: „Was möchte er denn haben?“ Mitleid empfindet er als die schlimmste Diskriminierung. Auf übertriebene Rücksichtnahme reagiert er unwirsch, manchmal fast schon übertrieben abweisend. Einmal stoppte ein Peterwagen neben ihm. „Dürfen wir Sie irgendwo mit hinnehmen“, hat der Polizist gefragt und eine unfreundliche Antwort geerntet: „Ich komme schon alleine vorwärts.“ Zwei Minuten später brach das elektronische Fahrgestell unter Klaus zusammen. „Das war die Rache für meine schroffe Reaktion“, lacht er.
Hilfe akzeptieren lernen und Eigenständigkeit bewahren, lautet seine Devise. Wenn er etwa mit seinem Rolli vor einem hohen Kantstein steht, freut er sich, wenn ein Passant ihm Hilfe anbietet. „Dann sage ich: Bitte warten Sie einen Moment, ich möchte es erst allein versuchen.“
In jeder freien Arbeitsminute fährt Klaus in die Werkstatthalle, in der 27 Behinderte Shampoo- Fläschchen zu Sixpacks verpacken. Setzt sich an die für ihn reservierte schräge Arbeitsplatte und holt die Pastellkreiden aus der Schublade. Manchmal dauert es Minuten, bis er den Kreidestift richtig zwischen die spastisch verformten Finger bugsiert hat. Dann malt und wischt er Bäume, Wiesen und bedrohlich wirkende Gewitterhimmel aufs Papier. Solange bis die beanspruchte Hand zu schmerzen beginnt.
Acht Wochen braucht er in der Regel, bis Farben und Formen zu einer Landschaft zusammengewachsen sind. Denn abends, außerhalb der Werkstatthalle, malt Klaus nicht. Dann fährt er lieber in seine Stammkneipe, ein Bier trinken. Oder spielt Schach mit einem Kumpel. „Ganz normal eben“, sagt er.
Ab und zu zieht es ihn auch in die Disco. „Ich beobachte gerne Menschen“, erzählt er. Daß er nicht tanzen kann, tut ihm nicht mehr weh. 40 Jahre hat er Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen. Wenn der Bewegungsdrang ihn packt, steuert er seinen vierrädrigen Untersatz mitten auf die Tanzfläche, rockt und rollt, was die Lähmung hergibt. Wie die anderen Gäste das finden? „Ist mir doch egal, was die dann denken.“
Morgens ist er immer der erste. Als ich um kurz vor sechs an der verschlossenen Tür klopfe, die die Wohngruppe 8 von dem Eingangsflur trennt, hat Thomas schon gebadet. Mit schleppendem Schritt kommt er herbei, um die Tür zu öffnen. An seinem unbekleideten Körper klebt noch Seifenschaum. Er führt mich in sein Zimmer. Sechs Quadratmeter Alsterdorf — die Nische für Thomas' Intimsphäre.
Ein Bett, ein alter Sessel, ein kleiner Kleiderschrank mit weißer Kunststoff-Front, der runde Tisch, auf dem sich etwa 40 CDs stapeln. Mehr paßt nicht in den Raum. Mühsam streift er sich mit seiner linken Hand die Kleidungsstücke über den Körper. Eine Anstrengung, die der 30jährige noch immer wahrnimmt — obwohl er es nie anders kennengelernt hat.
Die Wohngruppe 8 der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, in der Thomas lebt, besteht aus vier Männern und zwei Frauen, allesamt geistig behindert und zwischen 25 und 32 Jahre alt. Seit 1966 wohnt Thomas auf dem Stiftungs-Gelände in Hamburgs Norden, das damals noch Alsterdorfer Anstalten hieß. Die Sozialfürsorge hatte die Heimaufnahme vorgeschlagen, da sich Thomas' Mutter nicht genug um ihn kümmern konnte. Im fünften Monat ihrer Schwangerschaft hatte sie Blutungen bekommen, wenig später stürzte sie eine Treppe herunter.
Die Folge: Die linke Hirnhälfte des Embryos entwickelt sich nicht richtig — Thomas bleibt geistig behindert. Der Gesichtsnerv und die Gaumenmuskulatur erstarren, starke Sprachstörungen sind die Folge. Die Töne, die seine Lippen verlassen, lassen sich nur selten als Worte identifizieren. Der rechte Arm und das rechte Bein sind spastisch gelähmt. Die Hand kann Thomas gar nicht benutzen, sein Bein zieht er beim Gehen hölzern nach. Außerdem wird er sein Leben lang eine dickglasige Brille tragen müssen, Resultat einer starken, angeborenen Kurzsichtigkeit.
Erst mit zweieinhalb Jahren beginnt Thomas zu krabbeln, sechs Jahre benötigt er, um laufen zu
Sechs Jahre benötigt, um laufen zu lernen.
lernen. Das Ergebnis eines Intelligenztests, dem er sich im Alter von elf Jahren unterziehen muß, fällt verheerend aus. Die begutachtende Psychologin stellt aber fest: „Die Leistungsschwäche ist zum Teil auf mangelnde Förderung, bedingt durch die Anstaltssituation, zurückzuführen und könnte bis zu einem gewissen Grade durch gezieltes Training ausgeglichen werden“.
Doch intensive Betreuung kostet Geld. Das fehlt der Stiftung, die sich durch Spenden und Pflegegelder finanziert, an allen Ecken. Selbst der Schrank, der mit Spielen vollgestopft ist, bleibt meist verschlossen: „Wir kommen einfach nicht dazu“, stöhnt Wolfgang, der Erzieher. Vormittags ist er oft allein in der Wohngruppe. Bei der Morgentoilette helfen, Frühstück machen, Wäsche waschen heißt sein Programm. Organisationsroutine, bei der für den einzelnen kaum Zeit bleibt. „Thomas könnte bestimmt kochen lernen“, glaubt Wolfgang: „Spiegeleier und Kartoffeln wären drin.“ Doch wer soll ihm das wann beibringen?
Auch in der anstaltseigenen Sprachtherapie war für Thomas kein Platz frei. So hat er sich selbst beigebracht, sich durch Zeichensprache verständlich zu machen.
Immer wieder erzählt Thomas seine Geschichten.
Immer und immer wieder erzählt er Wolfgang mit den gleichen Gesten und Lautmalungen dieselben Geschichten. Erlebnisse, die ihn beschäftigen. Fordert Aufmerksamkeit ein, daß jemand zuhört, sich ganz auf ihn konzentriert. Je öfter er eine Geschichte zum besten gegeben hat, desto schneller wissen die Pädagogen, wovon Thomas ihnen berichten will. Das bedeutet Bestätigung, Erfolg. Mit einem langgezogenen „Hmmmmm“ und einem heftigen Kopfnicken quittiert er jede richtige Deutung seiner Zuhörer.
Für die anderen Behinderten, die in der Wohngruppe leben, ist diese Art der Verständigung zu anstrengend. Thomas hat zu ihnen wenig Kontakt, gilt als Einzelgänger. Ein Grund, warum er sich in der Wohngruppe nicht besonders wohl fühlt. Er zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger aus dem Fenster. „Das bedeutet“, übersetzt Wolfgang, „daß Thomas in eine Außenwohngruppe umziehen möchte.“ Raus aus dem Getto Alsterdorf, mit eigenen, weltfernen Regeln. „Die beste Therapie ist das normale Leben“, sagt Wolfgang.
Dabei bemüht man sich in Alsterdorf, den Alltag der 650 dort lebenden Behinderten so normal wie möglich zu gestalten: Jeden Morgen um halb acht macht sich Thomas auf den Weg zur Arbeit. Einmal quer über das Anstaltsgelände zur Behindertenwerkstatt. Hinein in die 150 Quadratmeter große Werkhalle, in der 29 Anstaltsbewohner beschäftigt werden. Ein Förderband schiebt „Schlesische Gurkenhappen“ im folienverschweißten Dreierpack zu ihm hin. Er stellt sie auf eine Papp-Palette. Immer wieder der gleiche Handgriff, täglich acht Stunden. Wochenlang. Lernen kann Thomas auch hier nichts. Entweder er beherrscht eine Aufgabe — dann macht er sie — oder nicht. Doch die Arbeits-Monotonie scheint ihn nicht zu stören. Stolz zeigt er, wie perfekt er seine Tätigkeit erledigt. Und: Er verdient Geld damit, 218 Mark im Monat. Greifbarer Beweis, etwas geleistet zu haben. Das erhöht das Selbstwertgefühl.
Jeden Freitag bekommt Thomas 30 Mark seines Arbeitslohnes in die Hand gedrückt. Stets folgt dasselbe
Selbstwertgefühl durch selbst verdientes Geld.
Ritual: Mit schlafwandlerischer Sicherheit nimmt er Kurs auf die U-Bahn, die ihn in die City bringt. Von dort bringt er jedesmal eine neue CD mit, die er immer im gleichen Hifi-Geschäft ersteht. In dem Abteil nehmen die wenigsten Fahrgäste Notiz von Thomas, nur manchmal streift ihn ein verschämt- unsicherer Blick. Allein eine ältere Frau weicht ihm auffällig unauffällig aus, als sie bemerkt, daß aus seinem geöffneten Mund ein paar Tropfen Speichel fließen. Man kann spüren, was sie denkt: „Nicht daß der mich noch ansabbert.“
Auf gleichem Weg geht es aus der Innenstadt zurück nach Alsterdorf, wo sich inzwischen in einem mit Schaumstoffmatten sorgsam abgedunkelten und schallisolierten Probenraum die übrigen Mitglieder der Band „Station 17“ versammelt haben. Drei Betreuer und fünf Behinderte machen hier zusammen Rock-Musik. Ein mißratener Ton, ein falscher Takt stört niemanden. Thomas trommelt unverdrossen mit seinem Zeigefinger auf die hüfthohen Bongos. Nicht immer im Rhythmus, aber mit spürbarer Freude. Klänge als Sprache eines Menschen, der sich anders kaum ausdrücken kann.
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