: Produzierte Wahrheiten
■ „Fishing for documents“ – Neues vom Dokumentarfilm im Babylon und im „Frisör“
Der Dokumentarfilm ist in Verruf geraten. Hauptvorwurf: langweilig. Viele Debatten und Symposien der letzten Jahre glichen eher Begräbnisfeiern. Unter dem Titel „Fishing for Documents“ sind nun vom 16. bis 18. und 23. bis 25.10. – zu einem Seminar in der „Botschaft“ und einer Filmreihe im Filmkunsthaus Babylon – sechs Film- und VideomacherInnen mit ihrer Arbeit eingeladen — neue Akzente erwünscht.
Romuald Karmakar, der die Reihe am vergangenen Freitag eröffnete, hält sich formal eng an die Tradition des beobachtenden Dokumentarfilms. Nicht so in seinen Themen. Indem er Halter von Kampfhunden oder in seinem aktuellen Film „Warheads“ Söldner (etwa in Kroatien) unkommentiert zu Wort kommen läßt, bricht er das Tabu einer (zwanghaften?) Solidarität des Dokumentarfilms mit der Linken oder zumindest „anerkannten“ unterdrückten Minderheiten. Lieber setzt sich Karmakar dem Vorwurf aus, „Faschist“ zu sein, als in gewohnter pädagogischer Manier seine dokumentarischen Bilder zu filtern.
Als nächste stellte sich die Amerikanerin Juliet Bashore dem Publikum. Die Tricks, derer sich Hollywood-Filmer bedienen, um ihr Publikum zu verzaubern, scheinen Bashore weder grundsätzlich zu verdammen, noch ausschließlich dem Spielfilm vorbehalten. In ihrem Film über eine lesbische Beziehung inmitten der Pornoindustrie („Kamikaze Hearts“) versucht sie, die Aufhebung des objektiven Zweifelns (suspension of disbelief) und eine durch gezielt gesetzte Spannungskurven gestraffte Dramaturgie auf den Dokumentarfilm anzuwenden: „Pornografie ist Dokumentarfilm, braucht die Distanz des Voyeurs“ (Bashore); die dokumentierten Personen hingegen rücken näher, fordern die Identifikation des Zuschauers.
Als „Filmimpressionisten“ bezeichnet sich selbst Harry Rag. In seinen filmischen Reisen („DDR ohne Titel“ und „Trans“, in Arbeit) dominiert nicht das Wort, sondern der Rhythmus der Bilder: die Montage wird zum zentralen Ort der Filmkomposition und der Realitätserfahrung, die Musik zum Kommentar.
Karmakar, Bashore, Rag – drei gegensätzliche Ansätze im Spiegel ihres gemeinsamen Materials: dem Zelluloid. Sie alle berufen sich auf filmische Traditionen, ohne sich mit ihnen abzufinden. Eine solche Vorgehensweise verlangt oft die Bereitschaft zum Experiment. Darauf verwies zum Beispiel Juliet Bashore in Zusammenhang mit ihren Fernsehdokumentationen „The Battle Of Tuntenhaus I & II“. In den Diskussionen wurde ihr vorgeworfen, ihr eigenes filmisches Konzept unter dem Druck fernseheigener Normen zugunsten von Schmackhaftigkeit und Konventionalität zu kippen.
Der zweite Teil der Veranstaltung am kommenden Wochenende ist dem Medium Video gewidmet, das hier jedoch weder als billigere Form, längere Filme zu machen, noch als technischer Sklave des Fernsehens präsentiert wird. Mit Jayce Salloum/Walid Raád, Hanno Baethe und Shelly Silver werden Videokünstler vorgestellt, die ihre Anregungen sowohl aus der bildenden Kunst als auch aus dem Dokumentarfilm oder fernsehspezifischen Formen beziehen. Salloums zentrales Thema ist die Perspektive des Betrachters: Er läßt den Zuschauer in raffiniert montierte Bilderwelten eintauchen, um sie sofort wieder mit ironischen Seitenhieben zu dekonstruieren. Mit einem Video über die Intifada („Introduction To The End Of An Argument...“) und drei Videos aus Beirut (gemeinsam mit Walid Raád), die in Berlin Weltpremiere haben, fokussiert er vor allem die westlichen Blicke auf den Nahen Osten.
Hanno Baethe aus Berlin wurde durch seine Porträts von Kurt Raab („Sehnsucht nach Sodom“) und Ernest Berk („Stay Just A Moment“) bekannt. Er führt keine Interviews, sondern erarbeitet gemeinsam mit seinen „Protagonisten“ assoziative Bilder, in denen diese ihre Lebensrealität darstellen. Zusätzlich verfremdet Baethe sein Material. Wie einer fremden Person nähert er sich in seinem neuen Video dem Kontinent Asien.
Die New Yorker Videokünstlerin Shelly Silver schließlich hebt die Grenzen der Gattung am radikalsten auf. Indem sie Dokumentarisches bewußt inszeniert, macht sie einmal mehr deutlich, wie sehr auch Begriffe wie Glaubwürdigkeit und Wahrheit mit gezielt eingesetzten Stilmitteln generiert werden können. Ihre aktuelle Arbeit „The Houses That Are Left“ ist darum konsequenterweise ein Spielfilm geworden, der auf drei Ebenen verschiedene Muster der Realitätswahrnehmung thematisiert.
Die Verschiedenheit aller Filmer beim Umgang mit dem Material Realität zeigt die Notwendigkeit – auch für den Zuschauer –, sich aus dem eng gewordenen Korsett der starren Gattungsgrenzen zu schälen und den Blick für neue Perspektiven zu schärfen. Gerlinde Frank
Fr., 23.10.: Hauptprogramm 20 und 22.30 Uhr: Jayce Salloum/Walid Raád; Rahmenprogramm: 18 Uhr: Videos von Paul Garrin. Sa., 24.10.: Hauptprogramm: 20 und 22.30 Uhr: Hanno Baethe; Rahmenprogramm: 18 Uhr Videos von Tajiri, Evans und Hodge. So., 25.10.: Hauptprogramm 20 Uhr: Shelly Silber; Rahmenprogramm: 22.30 Uhr: Videos von Feingold, Zando und Cohen.
Seminarteilnahme nur mit Voranmeldung unter 2292429, Botschaft e.V.
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