: Vatersuche – Mutterverrat
■ Ein autobiographischer Roman von Sibylle Plogstedt und Regula Venskes Vorschlag zur Literaturanalyse
Eigentlich ist es die Geschichte eines Bildersturms. Sie beginnt mit einem Bild und endet mit seiner Zerstörung. Mit acht Jahren findet das Mädchen Sibylle die Fotografie ihres leiblichen Vaters, von dessen Existenz sie bisher nichts wußte. Kindlich-neugierig wendet sie sich an die Mutter, die jedoch um die eigene unverarbeitete Vergangenheit eine undurchdringliche Mauer errichtet und alle Auskünfte verweigert. Das vorenthaltene Foto, an das sich fortan die unerfüllten Wünsche und Liebesbedürfnisse des Mädchens heften, nistet sich giftig in das angsterfüllte Schweigen zwischen Mutter und Tochter.
Es dauert vierzig Jahre, bis die erwachsene Tochter über den drohenden mütterlichen Liebesentzug – „Du wirst einmal schuld daran sein, wenn ich sterbe“ – hinwegsetzt und beginnt, das Bild, nach dem sie sich zeitlebens sehnte, real einzuholen und mit der Vatersuche Mutterverrat begeht. Wie kaum anders zu erwarten, führt dieser Weg in eine fortschreitende Desillusionierung.
Der biographische Hintergrund ist in seiner Banalität durchaus zeittypisch. Die kriegsverpflichtete Mutter trifft in Lettland einen kleinen Nazi-Mitläufer, der sie schwängert, um Frau und Söhne verlassen zu können. Sibylle-Kind fungiert als Scheidungsgrund. Der Mann läßt nach Kriegsende schließlich die junge Mutter sitzen und kehrt nach einem halbherzigen Selbstmordversuch zu seiner Familie zurück. Sibylles Mutter klammert sich an das Kind, versucht, im Nachkriegs-Berlin verbittert, eine eigene Existenz aufzubauen. Sie heiratet schließlich den Stiefvater, der von der Tochter schon deshalb abgelehnt wird, weil „Niemand“ mittlerweile zum libidinös besetzten Phantom geworden ist.
Sibylle Plogstedts Vatersuche ist das Protokoll einer Therapie, die durch eine schwelende Trennungskrise von außen initiiert wird. Die Geliebte der Autorin entzieht sich den auf sie gerichteten Forderungen, den uneingelösten Sehnsüchten und Hoffnungen Sibylles, die von der Mutter unbefriedigt bleiben und eigentlich dem Vater gelten: „Mein Weg zur Liebe führt über meinen Vater“, aber: „Männer dürfen mich nicht mehr enttäuschen.“ Selbst über seinen Tod hinaus hält der unbekannte, abwesende und unerreichbare Vater den Raum besetzt, den die „Niemandstochter“ benötigte, um sich zur Welt ins Verhältnis zu setzen, um Gefühle zu entwickeln in ihrer „Seele aus Eis“.
Damit stellt sich Plogstedts autobiographischer Roman in die Reihe der frauenbewegten Vaterbücher und Tochterbiographien des letzten Jahrzehnts. Als deren Kennzeichen machte die Hamburger Literaturwissenschaftlerin Regula Venske in einem zeitgleich erschienenen Buch die väterliche Herrschaftssicherung durch dessen Abwesenheit aus. Und wie bei den von ihr untersuchten Autorinnen sind auch bei Sibylle Plogstedt der abwesende „Niemand“ und sein Verrat an der Tochter die Triebfeder ihres Schreibens. Die weibliche Autorschaft fällt zusammen mit der „Leerstelle“ Vater, der nicht anwesende Vater ist die Instanz, der zentrale Schreibimpuls. „Indem es um die Väter geht“, ironisierte Venske diesen Gestus, „dürfen die Töchter – und zwar hemmungslos – über sich selber schreiben.“
Im Unterschied zu diesen, aber anders wiederum als in den Vater- Sohn-Retrospektiven der siebziger Jahre, zwingt Plogstedts „nachgetragene Liebe“ sie zu einer nicht mehr aufschiebbaren Auseinandersetzung mit der strafenden Mutter. Die Mutter nimmt in der Aufarbeitung der Geschichte des Vaters eine zentrale Position ein. Je mehr Wut Sibylle auf den Vater entwickeln lernt und das übermächtige Imago relativiert, desto angemessener werden die Ansprüche an die Mutter und die Geliebte, desto genauer die Distanzen. Denn die Nähe, die sich die Autorin im Laufe ihrer Recherchen zum toten Vater erarbeitet, entrückt ihn ihr auch. Nicht zuletzt die beiden Halbbrüder, die „rechtmäßigen“ Erben seines Namens und Platzes im patriarchalen System, verweisen ihn und sie auf den je eigenen Ort. „Die Abwesenheit“, schreibt Venske in ihrer Untersuchung, „ist prinzipieller Natur: Selbst ein anwesender Vater wäre für sie [die Töchter] unerreichbar, da sie nie an seinen Ort gelangen, seine Stelle nie werden einnehmen können.“
Der fast inzestuös-orgiastisch inszenierte Abschied, den die erwachsene Frau am Grab ihres Vaters feiert, nimmt in der Verschmelzung die endgültige Trennung vorweg. Am Schluß steht nicht die väterliche „Erlösung“, auf die Sibylle Jahrzehnte gewartet hat, aber das Rätsel Vater ist gelöst durch Niemandstod und Jemandsgeburt. Das Bild hat seinen fesselnden Sog verloren.
Erleichtert nimmt frau zur Kenntnis, daß die Geschichte auch nicht endet im Niemandsersatz, denn mit Niemand verschwindet auch die Geliebte. Das Scheitern der Beziehung steht im Zeichen des Vaters, obwohl es in der Beziehung um eine Frau geht. Der Ort der neuen Liebe ist noch nicht bestimmt, aber diese Art der Offenheit bleibt in Plogstedts selbstversichernder Vatersuche leider einzig. So gerne frau oder man sich mit ihr auf die Fährte macht und ihren Umwegen und emotionalen Verwirrungen folgt, so sehr wäre zu wünschen gewesen, daß sie das Gesagte nicht durch das Gemeinte verdoppelte, nicht alle Rätsel löste, sondern einen „Rest“ dem Interpretationsbedürfnis ihrer LeserInnenschaft überließe. Ulrike Baureithel
Sibylle Plogstedt: „Niemandstochter. Auf der Suche nach dem Vater“. Piper Verlag, 12,80DM.
Regula Venske: „Das Verschwinden des Mannes in der weiblichen Schreibmaschine. Männerbilder in der Literatur von Frauen“. Luchterhand Verlag, 16,80DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen