„Du bist doch sonst nur Freiwild“

Obdachlosigkeit unter Frauen: Auf der Straße und in den Unterkünften müssen sie mit männlicher Gewalt rechnen/ In Berlin sind 700 obdachlose Frauen registriert/ Dunkelziffer ist weit höher  ■ Von Tanja Stidinger

Berlin. „Ich war so am Ende, ich dachte, ich werf' mich vor den nächsten Zug.“ Ingrid K. schlägt die Hände vor das Gesicht. Sie will alles vergessen, was sie in den vergangenen 14 Monaten durchgemacht hat. Ein anständiges Leben hat sie geführt, das betont sie, bis „alles ganz schnell ging und ich plötzlich auf der Straße stand“.

Nach 28 Ehejahren ließ sich der Mann von ihr scheiden, das gemeinsame Haus wurde verkauft. Ingrid versuchte, bei ihren erwachsenen Kindern unterzukommen, doch „für die war ich nur 'ne Last“. Einer der Söhne setzte sie vor die Tür. Mit 52 Jahren steht sie mitten in Berlin, zwei Plastiktüten mit ihren Habseligkeiten in der Hand, und weiß nicht wohin. Verschüchtert und nervlich am Ende fügt sie sich in ihr Schicksal, von Sozialhilfe hat sie noch nie etwas gehört. Über ein Jahr verbringt sie in Suppenküchen, auf Bahnhöfen und in Parks. Geschlafen hat sie überall, am liebsten auf öffentlichen Toiletten – „da hatte man wenigstens warmes Wasser zum Waschen“. Einmal wird sie zusammengeschlagen, eine andere Obdachlose flickt sie wieder zusammen.

Nur knapp entgeht Ingrid, zusammen mit einer Bekannten, der Vergewaltigung durch männliche „Kollegen“. „Ich hab's nicht glauben wollen“, sagt sie, „aber die wollten uns wirklich gebrauchen. Die haben das nur nicht geschafft, weil wir unsere ganze Kraft zusammennahmen und uns wehrten“.

Für die Ärztin Cornelia Hinrichsen und die Sozialarbeiterin Karen Schenk, die in einer Beratungsstelle der Caritas in der Tiergartener Levetzowstraße Frauen, die „Platte machen“, betreuen, ist Ingrid kein Einzelfall. Frauen, die auf der Straße leben, müssen ihrer Erfahrung nach immer mit Gewalt rechnen. Seelische Erniedrigungen, körperliche Gewalt, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung, kaum eine Obdachlose, die sich damit nicht konfrontiert sieht.

So zynisch es klingt, aber auch in der Obdachlosigkeit sind die Geschlechterrollen klar verteilt. Um so bitterer für die Frauen, die auf der Straße oftmals eine Fortsetzung ihrer bisherigen Erfahrungen erleben: Obdachlosigkeit, das ist für die meisten Frauen der letzte Punkt in einer Lebensgeschichte, die bestimmt ist durch kaputte Familienverhältnisse, Mißbrauch und Mißhandlung, Therapien und Krankheit.

Von einer „neuen Generation“ weiblicher Obdachloser sprechen Cornelia Hinrichsen und Karen Schenk. Immer öfter finden sich bei ihnen Frauen ein, die, wie Ingrid K., durch Scheidung oder Rausschmiß das Dach über dem Kopf verloren haben. „Im ersten Liebesglück“, so Cornelia Hinrichsen, „ist die Unterzeichnung des Mietvertrages reine Männersache. Und dann steht sie plötzlich vor der Tür.“ Kommt dazu noch Arbeitslosigkeit oder ein geringes Einkommen, ist eine neue Unterkunft nur schwerlich aufzutreiben. Der Teufelskreis beginnt. Manch eine hangelt sich anfänglich noch von Bekannten zu Freunden durch, doch deren Geduld ist meistens schnell am Ende. Was am Schluß noch bleibt, ist der Weg in die Obdachlosenunterkunft.

Frauen haben da jedoch keinen Platz – zumindest keinen eigenen. Nicht eine der Pensionen oder Heime – mit Ausnahme der wenigen Betten in den Kirchengemeinden – ist für „Ladies only“. Sanitäre Einrichtungen sind teilweise so konzipiert, daß Frauen dort überhaupt nicht untergebracht werden können. Es sei denn, sie wollen eine Dusche und zwei Toiletten mit 15 Männern teilen.

Die 20 Jahre alte Isabelle verbrachte vier Monate in einem dieser Heime. Nach Vergewaltigung durch einen Fremden und Mißhandlungen des Vaters flüchtete sie nach Berlin und landete im sozialen Aus. Im Heim sah sie sich ständiger sexueller Belästigung ausgesetzt. Als Isabelle sich die „Anmache“ verbat, fand sie Drohbriefe in ihrem Bett: „Wir kriegen dich schon noch“.

Über eine Sozialarbeiterin bekam sie einen der raren Plätze in einer Frauenwohngruppe des Internationalen Bundes für Sozialarbeit. 23 Frauen leben hier auf zwei Etagen zusammen, alles ehemals Obdachlose. Zwei Jahre haben die Frauen hier Zeit, um sich zu erholen, zu sammeln und ihr Leben neu zu ordnen. Für Isabelle Rettung in letzter Minute: „Ich wollte mich verkuppeln lassen, nur um aus dem Heim rauszukommen.“

Der Mann als Ausweg aus der Obdachlosigkeit — nicht wenige Frauen greifen nach diesem vermeintlich letzten Strohhalm – und begeben sich doch nur in neue Abhängigkeit. „Mir war klar, daß ich mit jedem, bei dem ich Unterschlupf finde, auch schlafen muß“, erzählt die 32jährige Iris, eine Mitbewohnerin Isabelles. Von Mann zu Mann sei sie gereicht worden, denn „das war aus meiner Sicht sicher. Da hieß es immer, die ist mit dem und dem zusammen.“ „Ohne Mann“, so die 41jährige Karin, die auch in der Frauengruppe wohnt, „bist du doch Freiwild“.

Andere Frauen schließen sich den Männercliquen der Obdachlosen an und bezahlen dafür einen hohen Preis: Schutz und manchmal Naturalien gegen Sex. Ein Tauschhandel auf Kosten der Frau. Prostitution unter obdachlosen Frauen läuft versteckt ab und, so Cornelia Hinrichsen, „nur selten gegen Geld“.

Der Wunsch nach Sicherheit und das Bedürfnis nach menschlicher Nähe ist bei vielen Frauen so stark, daß sie selbst dann bei den Männern bleiben, wenn sie extremer körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Zufluchtsorte wie die Beratungsstelle der Caritas suchen diese Frauen erst dann auf, wenn der Druck, unter dem sie stehen, so massiv wird, daß sie zusammenbrechen. Karin Schenk stellt bitter fest: „Frauen, die lange in solchen Zusammenhängen leben, werden psychisch krank“.

Während Männer oftmals offensiv auftreten, verschweigen viele Frauen, die „Platte machen“, ihre Situation aus Scham. Immer mehr ziehen sich zurück, bauen irreale Traumwelten auf und dulden jede Erniedrigung in der Realität. Sie stumpfen ab, auch gegen die Reaktionen der Umwelt: „Wenn da ein Mann auf der Bank liegt heißt's bloß: ,Naja‘, ist es 'ne Frau, heißt es gleich: ,Guck mal, die Schlampe‘“, faßt Karin ihre Erfahrungen zusammen.

Derzeit sind knapp 700 obdachlose Frauen in der Stadt registriert, doch die Dunkelziffer ist dreimal so hoch, weitaus höher als die der Männer. Zum Vergleich: die Zahl der registrierten männlichen Obdachlosen liegt bei rund 9.000, die geschätzte Dunkelziffer bei etwa 25.000. Ein Großteil dieser Frauen ist körperlich und seelisch in einem derart desolaten Zustand, daß sie die wenigen speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Hilfsangebote, wie Frauenfrühstücke, kaum wahrnehmen können.

Ingrid K. ist es mit Hilfe der Beratungsstelle der Caritas gelungen, eine Unterkunft zu finden, ihr erstes eigenes Zimmer seit über 14 Monaten. Für sie ist es „wie ein zweites Leben.“ Doch Tausenden Frauen steht ein Winter auf der Straße bevor. Und es werden immer mehr...

Adressen für obdachlose Frauen:

Beratungsstelle für Nichtseßhafte des Diakonischen Werks und Caritasverbands: Levetzowstraße 12a, 1000 Berlin 21. Telefon: 3913095-99.

Internationaler Bund für Sozialarbeit, Betreute Frauenwohngruppen: Telefon: 7215077