■ Bonn-apart: Wie der Kanzler sitzen
Das Korrespondentenleben in Bonn bietet gelegentlich ungeheure, ja ungeahnte Chancen. Einmal der Kanzler sein, das wäre natürlich zuviel verlangt, und wer wollte das auch schon. Aber immerhin: Einmal wie der Kanzler sitzen – diese nicht wiederkehrende Chance nutzte gestern nicht nur ein Kollege.
Bonn, das Provisorium, weiht in der nächsten Woche das neue, nicht ganz billige Parlamentsgebäude ein. Die Vertreter der öffentlichen Meinung hatten schon gestern Zutritt. Erster Durchblick also durch den gläsern-luftigen Neubau, der zu Recht mit viel Vorschußlorbeer bedacht wurde. Ein Bauwerk diesen Zuschnitts ist auch heute noch ein Werk, das gelesen werden will: In diesem Fall zeigt sich das „Unfertige“, damit das stets Unvollendete der Demokratie sichtbar wird. Anhänger des Berlin-Umzugs hören den Begriff natürlich mit Nebengedanken und stets mit erfreutem Gesicht.
Der freie Blick vom Eingang bis zum Rhein steht für die Transparenz der Demokratie, für ihre Offenheit. Wer wollte so kleinlich sein und bemängeln, daß der Bau womöglich mehr verspricht, als seine zukünftigen Bewohner einlösen? Vielleicht werden sie zu Besserem inspiriert: vom runden Plenarsaal etwa, der dem parlamentarischen Leben ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Die Regierungsbank throhnt nicht mehr über den Volksvertretern, nur die Lehne des Kanzlersitzes, auf dem gestern Platz zu nehmen Gelegenheit war, ist unübersehbar erhöht: eben doch der erste unter Gleichen. Aber nicht nur der Geist der Transparenz und Offenheit in diesen Hallen läßt bekennende Bonn-Anhänger fragen: Sollen wir wirklich von hier aus zurück in den alten Reichstag?
Hinten im Gebäude findet sich ein Treppenaufgang, dessen Geländer kindliche Streichholzbastel-Experimente in vollendeter Form zeigt. Im Eingangsbau: bizarre Beleuchtungselemente. Und im Restaurant werden die Abgeordneten unter leuchtendbunten Decken stehen und auf sternbesät-blaue Wände sehen. Ich stelle mir die Volksvertreter dort vor und weiß: Hier waren subversive Hände am Werk. tib
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