Bundesgerichtshof muß über Mauerschützen entscheiden

■ Am 3.November entscheidet sich, ob die Schüsse an der Mauer rechtswidrig waren/ Mauerschützen klagen

Berlin (taz) – Der Bundesgerichtshof beschäftigte sich gestern damit, ob die Schüsse an der Mauer im Sinne geltenden Rechts strafbar sind oder nicht. Am 5.Februar 1992 waren die beiden Mauerschützen Uwe Hapke und Udo Walther vom Berliner Landgericht zu Bewährungsstrafen von 21 und 18 Monaten verurteilt worden. Ihre Anwälte Helene Bode und Wolfgang Panka hatten für ihre Mandanten Revision eingelegt und wollen nun einen Freispruch erreichen.

In der mündlichen Verhandlung gestern in Berlin bestand die primäre Argumentationsstrategie darin, die Verurteilung der Schützen deshalb abzulehnen, weil nach dem Einigungsvertrag ausschließlich DDR-Recht anzuwenden sei. Sofern allerdings DDR-Recht maßgeblich ist, stünden den beiden Männern, die mit ihren Kalaschnikows auf den 20jährigen Michael- Horst Schmidt feuerten, ein Rechtfertigungsgrund beiseite. Dieser ergebe sich gemäß Paragraph 27 des Strafgesetzbuches der DDR daraus, daß Republikflüchtlinge notfalls durch Tötung an ihrem Vorhaben zu hindern seien. Nach dieser Feststellung wurde dann penibel aufgelistet, weshalb im konkreten Fall dieser Rechtfertigungsgrund voll durchgreife und nicht etwa deswegen leerlaufe, wie das Landgericht angenommen hatte, weil die Grenzer ihre Waffen sogleich auf Dauerfeuer eingestellt hatten.

Unbemerkt blieb man dabei, daß es dieser Argumentation überhaupt nicht mehr bedurfte, wenn tatsächlich „DDR-Recht anzuwenden ist, so wie es dort in der Praxis gehandhabt wurde“, wie Anwalt Panka feststellt. Dann nämlich hätten die Anwälte nur darauf verweisen müssen, daß die Grenzer für ihr Tun von den DDR- Oberen belobigt wurden und kein DDR-Staatsanwalt sich jemals für diese Schüsse interessiert hat. Sofern tatsächlich die Praxis der DDR maßstäblich ist, bedürfte es keiner weiteren Worte.

Dennoch ließen die Anwälte sich auf die Argumentation des Berliner Landgerichts ein. Das Dauerfeuer sei nicht unverhältnismäßig gewesen. Andernfalls hätte das Landgericht beweisen müssen, daß auch Einzelfeuer den gewünschten „Erfolg“ herbeigeführt hätte. Auch habe das Landgericht zu Unrecht „bedingten Vorsatz“ bei der Tötung angenommen. Allein das Wissen um die mögliche Folge der Schüsse beweise noch nicht, daß der Tod, wenn auch nur bedingt, gewollt war.

Am 3.November soll das Urteil verkündet werden. Es kann mit Spannung erwartet werden, denn die Entscheidung des höchsten Gerichts wird wegweisend sein für alle künftigen Urteile im Zusammenhang mit dem sogenannten „DDR-Unrecht“. Sollten die Anwälte mit ihrer Revision Erfolg haben, könnten die 1.200 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Schüssen und Tretminen an der Mauer ad acta gelegt werden. Selbst für das Verfahren gegen Honecker und Konsorten könnte die Entscheidung Bedeutung erlangen. Deren Verurteilung wäre allenfalls dann noch möglich, wenn es einen Unterschied macht, ob nach unmenschlichen Gesetzen gehandelt wurde oder ob unmenschliche Gesetze erlassen wurden. Julia Albrecht