piwik no script img

Versetzte Mauer

Angesichts dessen, was sich heute im Gebiet der ehemaligen DDR abspielt und eine verheerende Blut- und Brandspur mit Namen Hoyerswerda, Fürstenwalde, Rostock, Quedlinburg, Goldberg, Stralsund und und und hinter sich läßt, kommt man nicht umhin, die sogenannte „friedliche demokratische Revolution des Volkes“, die zur Beseitigung der Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten geführt hat, tiefem Zweifel zu unterziehen.

War dies eine Revolution? Hat sie wirklich eine Mauer zu Fall gebracht? Die Deutschen haben noch nie eine Revolution gemacht, weder eine demokratische noch eine soziale, noch eine ökologische, noch eine friedliche. Ziehen wir endlich den Glanz der salbungsvollen Reden von dem, was diese „Wende“ wirklich war – von Revolution spricht ja nicht zufällig längst keiner mehr. Sie war in Wahrheit nichts anderes als die Versetzung der Mauer von der Mitte an die Ostgrenze Deutschlands, erzwungen von jenen im Osten lebenden Deutschen, die vom Kuchen des Reichtums weniger abbekommen haben als ihre westlichen Verwandten. Es ging um nichts anderes als darum, auch zu den verwöhnten, satten und egozentrischen Onkels und Tanten aus dem Westen zu gehören, von der Konsumschlacht nicht mehr ausgeschlossen zu sein, sondern selbst ausschließen zu dürfen.

Nein, man hatte nichts wirklich gegen die Armutsmauer, sie sollte nur etwas weiter im Osten stehen. Und friedlich war man beim Abbau der bestehenden Mauer aus purer Feigheit, die da oben hätten es vielleicht nicht erlaubt! Bei der Neuerrichtung und Verteidigung ihrer Mauern dagegen waren die Deutschen noch nie friedlich und demokratisch! Und die da oben haben ja auch nichts dagegen.

Und die im Westen, auch sie würden am liebsten die Mauer wieder errichten, da wo sie auch vorher stand. Für sie beginnt der arme bedrohliche Osten schon an dieser Stelle. Das ist das Realbild der deutschen Wiedervereinigung. Wir sind „ein einig Volk“ von Gefängnismaurern, bloß uneinig darüber, wo die Mauern stehen sollen. Verschonen wir darum wenigstens unsere Geschichtsschreibung vor weiteren Lügen über eigene „friedliche und demokratische Revolutionen“. Franz-Johannes Lietsch, Berlin

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen