piwik no script img

Rote Roben bieten Vergleich an

Im Rechtsstreit um ostdeutsche Stromverträge sollen Kommunen die Energieversorgungsanlagen zurückerhalten  ■ Aus Stendal Hermann-Josef Tenhagen

Es ist viertel nach sieben abends, vor dem Kultursaal des Eisenbahnausbesserungswerks Stendal ist es schon lange dunkel und das interessierte Publikum bereits gegangen, da räuspert sich Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Bockenförde. Nach Auffassung des Zweiten Senats liege die Vorstellung nicht fern, so der Mann in der roten Robe, daß den ostdeutschen Kommunen, die in der Lage seien, eigene Stadtwerke zu bilden, von der Treuhand die Stromversorgungsanlagen rückübertragen bekommen könnten. Die Städte und Gemeinden sollten dafür auf den ihnen nach den umstrittenen Stromverträgen zustehenden „Kapitalanteil“ an den regionalen Stromversorgern verzichten. Und die Bundesregierung, so Bockenfördes Vorschlag, könne doch „begleitend tätig werden“, um im Hinblick auf die noch auszuhandelnden Konzessionsverträge für die Kommunen angemessene Verträge zu ermöglichen. „Der Senat ist der Meinung, daß, wenn man in dieser Weise aufeinander zugehen könnte, sich viel Streit erübrigt“, schließt der Vorsitzende.

Plötzlich waren die sichtlich ermüdeten Kontrahenten wieder hellwach. Bei den Vertretern der Bundesregierung kam Unruhe, bei denen der Ost-Kommunen verhaltener Jubel auf. Eine kleine Sensation bahnte sich an, die Verhandlung wurde anschließend für eine halbe Stunde unterbrochen. Mit einem Vergleich wollten die Verfassungsrichter das Verfahren um die anhängige Verfassungsbeschwerde der 164 Ost-Kommunen gegen die Stromverträge abkürzen, die Ende August 1990 zwischen der letzten DDR-Regierung, der Treuhand und den westdeuschen Energiekonzernen abgeschlossen wurden. Willfried Horstmann, Chef der neugegründeten Stendaler Stadtwerke, strahlte: „Ich bin glücklich.“ Er und seine Kollegen würden durch den richterlichen Vergleichsvorschlag genau das bekommen, um was sie seit Jahren kämpfen: das Betriebsvermögen und die Stromerzeugungsanlagen samt den Netzen — die materiellen Voraussetzungen also für ein erfolgreiches Stadtwerk.

Staatssekretär Dieter von Würzen zog sich zusammen mit den Vertretern der Stromkonzerne in ein Hinterzimmer zurück. Als Möllemanns Stellvertreter mit den Herren der Stromkonzerne zurückkommt, stieg kein weißer Rauch auf. „Wir haben noch keine Einigung. Ich möchte sogar hinter dieses Wort noch ein Fragezeichen setzen“, bremste der Staatssekretär jede Euphorie. „Dem Rechtsfrieden wäre mit einer Entscheidung des Gerichts mehr gedient.“ Der Prozeßbevollmächtigte der drei Stromriesen PreussenElektra, RWE und Bayernwerk, Fritz Ossenbühl, war mit dem richterlichen Vorschlag gar nicht zufrieden. Die deutsche Stromwirtschaft brauche nichts mehr als Rechtssicherheit. „Wir glauben nicht, daß wir das mit einem Vergleich erreichen. Es gibt unter Tausenden immer einige Querulanten.“ Großes Hallo und Gelächter unter den angesprochenen Kommunalvertretern.

Verfassungsrichter Bockenförde gab den Konzernen zu bedenken, daß das von ihnen verlangte Urteil kaum vor Februar 1993 ergehen werde. Auch sei keineswegs sicher, daß die Rechtsfragen, die sie geklärt haben wollten, nach einem Urteil tatsächlich geklärt wären. Städtevertreter Peter Becker, der sich bei diesem Disput ruhig zurücklehnen konnte, präsentierte anschließend die generelle Zustimmung der Ost-Kommunen zu dem vorgeschlagenen Vergleich. Die Städte hatten in der Pause schnell ein Sechs-Punkte- Papier entwickelt, das den Tausch von Kapitalanteilen und Anlagen vorsieht, die Kostenfrage regelt, eine Clearingstelle für strittige Grundstücks- und Altlastenfragen einschließt und der Bundesregierung eine zentrale Rolle bei der Aushandlung von Konzessionsverträgen für die kleinen Ost- Kommunen zubilligt.

Während Konzernvertreter Ossenbühl noch giftete, ein solcher Kompromiß würde „einen Erdrutsch“ in Richtung Stadtwerke auslösen und „als Sieg der Kommunen gefeiert“ werden, hatte Staatssekretär von Würzen bereits auf Konzilianz umgestellt. „Die Bundesregierung wird das prüfen, setzen Sie uns eine Frist.“ Was das Gericht denn auch tat: Bis zum 16. November sollen sich die Prozeßparteien zu dem Vorschlag der Kommunen erklären. Danach spulte der Senat das Restprogramm nur noch mit sichtlichem Unwillen ab. Dem letzten Redner, dem Kieler Juraprofessor Albert von Mutius, erteilte Bockenförde das Wort mit einem von Herzen kommenden „Muß es noch sein?“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen