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In finsteren Zeiten rettet die literarische Liebe

■ Die 18. Berliner Autorentage gehen heute zu Ende: Mit Multimedia-Konzert im Haus Ungarn

„Wir gehen vor Ort!“ Die Neue Gesellschaft für Literatur versteht sich nicht als Konkurrenz zu den großen Literaturhäusern. Sie sieht ihre Stärke in „dezentraler Arbeit“. Ziel der Gesellschaft sei es, „den Leuten Literatur nahezubringen“. So formuliert es die Geschäftsführerin Anna Tüne. Getreu diesem Motto fanden die 18. Berliner Autorentage auch nicht im Literaturhaus in der Fasanenstraße statt, wo die Literatur seit langem eine luxuriöse Heimstatt hat. Von sechs allabendlich aufeinanderfolgenden Veranstaltungen der diesjährigen Lesungsreihe fanden fünf im bescheideneren Haus Ungarn statt, am Alexanderplatz, im Osten, in der Stadtmitte.

„Liebesmahl International“ lautet der Titel der Autorentage. Um Liebe geht es und nicht etwa um Themen, die derzeit auf der Hand liegen – Rassismus, Ausländerhaß. „In der Literatur diente die Liebe in finstersten Zeiten immer schon als Rettungsanker“, sagt Anna Tüne. Die Autorentage werden allerdings heute abend mit einer erklärtermaßen antirassistischen Aktion ausklingen. Justus Blumenstein präsentiert ein „multikulti-multimedia-Wanderprojekt“ mit dem Titel „Paint-Orchester der Kulturen“. Das Projekt soll Schluß- und Höhepunkt der Tage zugleich sein. Aufführungsort ist wieder das Haus Ungarn.

Das älteste Dichterthema der Welt, die Liebe: in unermüdlichen Anläufen zeigten auch bei dieser Gelegenheit Schriftsteller deren unzählige Gesichter.

Unter dem Stichwort „Helldunkel“ fanden sich im gediegenen Literaturhaus am Mittwoch sechs AutorInnen aus fünf Ländern zusammen. So bunt gemischt wie die unterschiedlichen Nationalitäten sind die „bürgerlichen“ Berufe der Dichter: ein Soziologe war darunter, eine Kosmetikerin, ein Agraringenieur, der sich mit Fischverarbeitungstechnologie befaßt, eine ehemalige Stenotypistin, die jetzt als freiberufliche Malerin und Schriftstellerin arbeitet. In ihren literarischen Liebesäußerungen portraitieren sich die DichterInnen – gewollt oder ungewollt – jeweils selbst. Anneliese Berkenkamp – Herzensergießungen einer herzensguten Autorin: „In ihren langen Wimpern hing noch ein Tröpfchen All, das ihr gut stand.“ Kulturkritisch – Evelyne Sinnassamy: „Dein schöner Leib, Frau, ist nur eine nackte Ziffer für die Datenbank.“ Selbstkritisch – Aldo Legnaro, der sein Erzähler-Ich beschreibt als einen Mann mit leichtem Bauchansatz, einen, der immerhin „punktgenau Eier kochen kann“. Mit Hang zum Metaphysischen – Gonzalo Villa Ruiz: „Geilheit ist göttlich.“

Unter dem schwindelerregend doppelnden Titel „Tandem-Doppel“ trugen vier AutorInnen im Neonlicht, im blaugeblümten 70er- Jahre-Ambiente „homoerotische Gedichte für Frau und Mann“ vor. „O unbegreifliche Päderasten!“ So beginnt Ulrich Berkes die eigene Übersetzung eines Lautreamont- Gedichts, das über die Macht der Samentropfen philosophiert und mit der Feststellung endet: „Ich liebe die Frauen nicht.“ Katharina Ogunthoyes Gedichte verlieren sich nicht in Vergangenheit und Philosophie. Die Autorin bleibt im Hier und Jetzt, ob in der Beschreibung von Trennungsschmerz oder dem optimistischen Neubeginn einer Liebe. Kämpferisch setzte sich die Kanadierin Carolyn Gammon mit Lesbenklischees auseinander. Manchmal schlägt sie auch leise Töne an. Ein zarter Satz über das Märchen vom Glück: „Du öffnest das Buch, ich steig in die Seiten.“ Marion Löhndorf

Heute abend, 20 Uhr, Haus Ungarn: Multi-kulti-Media- Wanderprojekt von Justus Blumenstein: „Paint-Orchester der Kulturen“

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