: Long Live the Long Wave
■ Die BBC-HörerInnen setzen sich nach Protesten durch: Radio Four, das Traditionsprogramm für die Mittelschicht, bleibt vorerst auf der Langwelle
Die britische BBC hat sich dem Druck ihrer HörerInnen gebeugt: Radio Four wird auch weiterhin auf der Langwelle ausgestrahlt. Die Pläne, auf der entsprechenden Frequenz rund um die Uhr Nachrichten zu senden, wurden vorerst auf Eis gelegt. Die aufgeschreckten HörerInnen, die sich in der Kampagne „Save the Long Wave“ organisiert hatten, sagten daraufhin ihre für Samstag geplante Demonstration vor dem BBC-Gebäude in London ab. Der Lehrer Nick Mac Kinnon aus Winchester, der die Kampagne vor drei Wochen ins Leben gerufen hatte, legte der BBC 10.000 Protestbriefe vor. In verschiedenen Landesteilen kann man Radio Four nämlich nicht auf UKW empfangen, und die circa 500.000 Radio-Four-Fans auf dem europäischen Festland sind ebenfalls auf die Langwelle angewiesen.
Nun ist Radio Four freilich nicht irgendein Sender, sondern eine nationale Institution für die berufstätige englische Mittelschicht. „Wir haben in der ganzen Welt nach etwas Ähnlichem gesucht und nichts gefunden“, behauptet der Chef des Senders, Michael Green. Kein anderer Sender produziert so viele anspruchsvolle Hörspiele, und auch die Nachrichtenmagazine sind nicht nur informativ, sondern darüber hinaus unterhaltsam. Angeblich war Radio Four der Lieblingssender der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher, was man den Programmgestaltern jedoch nicht ankreiden sollte. Die HörerInnen, die im Durchschnitt überdurchschnittlich gebildet und über 30 sind, reagierten auf jegliche Veränderungen schon immer verärgert. Als Anfang des Jahres die „Woman's Hour“, die Stunde für die Frau, vom Nachmittag auf den Morgen verlegt wurde, gab es einen Aufschrei – selbst von Männern, die die Sendung noch nie gehört hatten. Schließlich darf ein Naturgesetz nicht einfach von einem Programmdirektor über den Haufen geworfen werden.
Live dabei bei der Seelenklempnerei
Der wichtigste Fixpunkt im Radio- Four-Alltag sind jedoch die „Archers“, eine Familiensendung, die jeden Wochentag um 19.05 Uhr läuft – für eine Viertelstunde. Wer sie verpaßt, bekommt am nächsten Tag noch eine Chance: Sie wird um 13.40 Uhr wiederholt. Als Jack und Peggy, zwei der Hauptpersonen, am vergangenen Neujahrstag endlich heirateten, machte das landesweit Schlagzeilen. Der glückliche Augenblick wurde auf Tonkassette festgehalten und vermarktet. Es gibt sogar eine Organisation für „Archers“-Süchtige, den „Archers Addicts Fan Club“ in Birmingham. Fast ebenso beliebt wie die „Archers“ ist der irische Psychiater Anthony Clare, der jede Woche eine prominente Person auf seine Couch legt und aushorcht. Manchmal treibt er es soweit, daß das Opfer in Tränen ausbricht und über seine Kindheit winselt.
Jedenfalls ist Radio Four ebenso wie die Monarchie Teil der britischen Tradition. Doch beide sind in Gefahr: das Königshaus, weil die moralischen Werte bei den Blaublütigen laut Boulevardpresse fast täglich auf einen neuen Tiefpunkt sinken, und Radio Four, weil die kommerziellen Sender in der Gunst der Hörerschaft ständig steigen. Im vergangenen Jahr stieg ihr Anteil um drei auf 36,4 Prozent.
Bei der Vergabe der Wellenlängen herrschen die Gesetze der freien Marktwirtschaft: Wer das meiste zahlt, erhält die Lizenz. Irgendwelche Qualitätskriterien spielen dabei keine Rolle. Entsprechend ist das Programm: seichte Popmusik von früh bis spät, unterbrochen von Werbung und überfallartigen Nachrichten, die höchstens drei Minuten dauern und fatal an die Schlagzeilen der Boulevardpresse erinnern. Der Kommerzsender Melody Radio hat konsequenterweise gleich die Discjockeys abgeschafft, so daß der passive Hörgenuß nicht durch Geplapper getrübt wird.
Hauptsache billig: Die „Phone-ins“ der Privaten
Weit schlimmer sind jedoch die „Phone-ins“, die wie eine Seuche um sich greifen. Und wie ein Alptraum treten sie meist nachts auf: Merkwürdige Menschen, die obendrein unter Schlaflosigkeit leiden, rufen beim Sender an und tischen dem arglosen Moderator— und der Öffentlichkeit, sofern sie nicht schnell genug den Ausschaltknopf betätigt – hanebüchene Belanglosigkeiten auf. Vorteil dieser Sendungen ist, daß sie lächerlich billig sind. Und darauf kommt es bei den kommerziellen Sendern an. Man kann es ihnen nicht einmal verübeln, entstehen ihnen doch Anfangskosten von zehn Millionen Pfund (ca. 25 Millionen Mark). Dazu kommen die jährlichen Mietgebühren für den Sender in Höhe von 1,5 Millionen Pfund (ca. 3,75 Millionen Mark). Das muß erst einmal eingespielt werden. Für Experimente ist da kein Platz. Bis zur Jahrtausendwende werden Hunderte weiterer kommerzieller Sender eine Lizenz erhalten. Möglicherweise wird man die öffentlich-rechtlichen Sender in dem Wellensalat dann gar nicht mehr finden.
Für Radio Four heißt es angesichts dieser flachsinnigen Übermacht, die Nerven zu behalten. Das gleiche gilt für die anderen BBC-Radioprogramme, die – im Gegensatz zu Radio Four – bereits heute sinkende Zuhörerzahlen zu beklagen haben. Der Streit um Radio Four, der den bereits legendären Hang der BBC zu Eigentoren wieder einmal unter Beweis gestellt hat, läßt für die Zukunft jedoch nichts Gutes ahnen. Ralf Sotscheck, London
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