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Die Verzauberung der Provinz

Wiederholung als Erfolgsgeheimnis: Märchenhaftes von der deutschen Märchenstraße  ■ Von Christel Burghoff

Das schöne Mädchen sitzt am Brunnenrand und blickt sinnend zum Frosch hinunter, der den goldenen Ball der Königstochter festhält und sie damit schwer unter Druck setzt. „Was gibst du mir, wenn ich dein Spielwerk heraufhole“, drängt das Tier. Nichts, was sie ihm anbietet, ist ihm gut genug, nein, der unverschämte Frosch will die Prinzessin selbst.

Die beiden Bronzefiguren vom Frosch und der Prinzessin scheinen geradewegs dem Grimmschen Märchen vom Froschkönig entstiegen zu sein und sitzen jetzt auf dem Steinauer Märchenbrunnen. Steinau an der Straße: ein Ort an der deutschen Märchenstraße und süßlich wie das Happy-End eines Hollywoodfilms. Rund um den tadellos gepflasterten Marktplatz mit seinen Blumenkübeln und den jungen Bäumen gruppiert sich das mittelalterliche Universum von Rathaus, Kirche, Schloß, Marstall und Burgmannenhaus – alles top saniert – in ansprechenden Farben, mal rustikal braun-weiß, mal in ausgesucht aufeinander abgestimmten Pastelltönen. Der Ort, aufs lieblichste eingebettet in die Bergwinkellandschaft von Vogelsberg und Rhön, hat es auf ebenso liebliche Weise verstanden, sich im märchenhaften Heile-Welt-Stil herauszuputzen.

Wir sitzen unter der schattenspendenden Kastanie des Burgmannenhauses. Ja, hier könnte sich die Story vom Frosch und der Prinzessin abgespielt haben. Der Zaubertrick mit der Erinnerung klappt: man sieht die beiden, wie sie nacheinander aufs Schloß zugehen. Nächste Szene: der König nötigt seine widerstrebende Tochter, das ihr abgerungene „Versprechen“ zu erfüllen. Dann folgt das Drama im Schlafzimmer: voller Ekel entledigt sich die Prinzessin des nervigen Tiers durch einen beherzten Wurf an die Wand, und – hast du nicht gesehen – der Frosch entpuppt sich als Prinz. Schnitt und letzte Szene: das unvermeidliche Happy-End. Prinz heiratet Prinzessin – und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute... Daß dem Mädchen übel mitgespielt wurde – vergeben und vergessen. Hochzeiten sind doch sooo schön, suggeriert das Märchen, man könnte heulen vor Glück.

Wir sind nicht die einzigen, die es nach Steinau gelockt hat. Am Märchenbrunnen lärmen Kindergruppen, die zu den Märchenvorführungen im Marstall angereist sind. Auf dem Marktplatz drehen Touristengruppen ihre Runden. Steinau versteht sich als Brüder- Grimm-Stadt und beansprucht somit einen festen Platz im Karussel deutscher Kulturgüter. Die Brüder Grimm verbrachten hier ihre – wie es heißt – glücklichsten Kindheitstage. In Kassel brachten sie 1812 und 1815 die beiden Bände ihrer weltberühmten Märchen heraus. „Es war einmal“. Mit der Märchenstraße haben deutsche Touristiker den Geschichten ein weiteres Kapitel hinzuerfunden, nämlich das vom „märchenhaften“ Deutschland, und sie haben daraus eine Route gebastelt, die von Hanau bis nach Bremen reicht. Überall dort, wo es sich hätte zutragen können, wo Rotkäppchen, Aschenputtel, Gänseliesel, Dornröschen litten und liebten, wo Frau Holle, Doktor Eisenbart oder der Rattenfänger aktiv wurden, ist Märchenland.

Märchen sind redundant, sie wiederholen sich, sie erzählen immer dasselbe mit ein wenig anderen Worten, soll der englische Soziolinguist Basil Bernstein herausgefunden haben. Märchen sind wie eine Dauerberieselung, die einen einlullt und irgendwann jede wache Bewußtseinslage knackt, bis die Botschaft sitzt, daß die Welt, so wie sie geordnet ist, schön und intakt ist.

Die Erfolgsstory der Märchenstraße: sie wiederholt in wenigen Varianten immer dasselbe. Mit anderen Worten: Es ist genau so. Was in Steinau so überzeugend begann, geht auf dem Weg nach Norden dann in Lauterbach, Alsfeld, Homberg, Fritzlar... so weiter. Wir passieren ein perfekt gestyltes Altstadt-Kleinod nach dem anderen, rasten mit unseren Rädern auf historischen Marktplätzen, sitzen in Straßencafés und staunen über die Leistungen der Sanierer, Altstädte clean wie Kinoleinwände hervorzuzaubern, auf denen sich die Fassaden bestens als Kulissen eigneten. Die Provinz hat sich der Aktivierung vormoderner Bilder verschrieben, versetzt mit allerlei importiertem Schnickschnack wie den überbordenden Geranien. Gegen die Gigantomanie urbaner Entwicklungen realisiert sie ein vormodernes Zuckerguß-Idyll. Aus den letzten Großbaustellen wie in Treysa spricht das klare Bedürfnis, endlich dort anzukommen, wo man schon immer hinwollte, nämlich zum Happy-End. Die Provinz küßt den Tourismus. Ob es hier früher, zu den Märchenzeiten, auch so aussah?

„Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen“, schnurrte der Wolf bei Schrecksbach in der Schwalm.

Es ist Sommer mit einem traumhaften Wetter. Man kann sich wie in Watte darin einpacken. Die Kirschen sind reif, in den Weizenfeldern blühen Kornblumen, und die Ackerrainstreifen leuchten gelb von Johanniskraut. Nicht anders wird Rotkäppchen die Umwelt wahrgenommen haben, als es der Wolf zum Blumenpflücken verführte – und dann auffraß. Eingedenk der späteren kruden Einsicht des Kindes, immer auf dem Weg zu bleiben, damit nichts Schlimmes geschieht, radeln wir auf kleinen Straßen durch die reinlich geordnete Landschaft.

Früher, so erinnere ich mich, passierten hier in der Tat die schauerlichsten Dinge, das Märchenland hatte es in sich. Im Märchen lebt, haut und sticht das Mittelalter. Im „Aschenputtel“ werden zwei „falschen“ Bräuten die Augen ausgepickt, Schneewitchens Stiefmutter muß sich in glühenden Pantoffeln zu Tode tanzen. Verbrennungen sogenannter „Hexen“ sind normal. „Die ist nichts Besseres wert, als daß sie splitternackt ausgezogen und in ein Faß gesteckt wird, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist; und zwei weiße Pferde müssen vorgespannt werden, die sie Gasse auf, Gasse ab zu Tode schleifen“, spricht sich die verräterische Dienerin der „Gänsemagd“ die Todesart selbst vor, die sie erleiden wird.

Das Märchen verschweigt nichts; keine Brutalität, keine Greueltat, die es nicht teilnahmslos schildert, es unterschlägt bloß seinen pädagogischen Zweck, Kinder mit den Methoden der Einschüchterung auf die Normen und Werte des sauberen Kleinbürgers zu trimmen. Mehrmals schrieben die Brüder Grimm ihre gesammelten Geschichten um, bis sie den Moralvorstellungen des Biedermeier Genüge taten, bis „Gut“ und „Böse“ so klar definiert waren, daß das sogenannte Böse rechtens vernichtet werden konnte.

Ihrem repressiven Weiblichkeitsverständnis entsprechend ließen sie selbst die berühmten Märchengestalten der bekanntesten Märchen leiden. Wie „Aschenputtel“ in die Küche an den Aschekasten drangsaliert zu werden, war noch das Mindeste. Ohne Aschekasten kein Prinz! „Gut“ ist, was sich in Demut übt, in biedermeierlicher Tugend, „so fromm und gut, so arbeitsam und unverdrossen“, wie Schneeweißchen und Rosenrot, die „das Hüttchen ihrer Mutter so reinlich hielten, daß es eine Freude war“.

Mit der Mär von der fleißigen Haushaltshilfe, die durch die Schule der „Frau Holle“ geht, haben Generationen biederer Frauen ebenso biedere Hausmütterchen erzogen. Die Dame residiert auf dem Hohen Meißner, in der Nähe von Kassel. Sie blickt schon vom Unterkunftsverzeichnis auf uns herab, drall, mit einem Kissen in den Händen, in rosa-weiß gemusterter Bluse, ein Kopftuch auf dem blonden geflochtenen Haar, und lacht ein blendendes Lachen – gebißreguliert, wie es der überlieferten Holle mit den großen, grauseligen Zähnen bestens angestanden hätte. „Wenn du alle Arbeit tun willst, so soll dir's gutgehen. Du mußt nur acht geben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig ausschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es auf der Welt. Ich bin die Frau Holle.“ Die im Märchen merkwürdig blasse Gestalt ist die archaische Göttin der Germanen. Arme Pechmarie! Sie hat keine Lust, das Spiel der Frau Holle mitzuspielen. Dafür muß sie sich als häßlich, faul und hochfahrend hinstellen und obendrein mit Pech übergießen lassen.

An den Flüssen der Fulda und – ab Hannoversch-Münden – der Weser entlang, läßt es sich angenehm radeln. Beidseitig steigen bewaldete Mittelgebirge an. Germanischer Wald! Im „großen, dunklen Wald“ ist es „wild“ und „gefährlich“ – wird in den Märchen erzählt. Wen es dorthin verschlägt, der ist nicht freiwillig gegangen. Rapunzel muß in der furchtbaren „Wüstenei“ Jammer und großes Elend erleben. Hier verirren sich selbst die Räuber.

Im Herzen der Märchenlandschaft, im Reinhardswald, weiden heute noch auf großen Arealen Auerochsen und Hirsche; im märchenhaften Urwald wachsen uralte Buchen und ururalte Eichen, die mit ihren knorrigen, abgestorbenen Ästen das generelle Waldsterben vergessen lassen. Im Rein Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

hardswald stehen die für die Gastronomie hergerichteten Ruinen von Trendelburg, Krukenburg und der Sababurg, dem legendären Dornröschenschloß. „Rings um das Schloß aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und darüber hinaus wuchs, das gar nichts mehr davon zu sehen war.“ Als der hundertjährige Tiefschlaf vorbei war, verwandelte sich die Hecke in lauter Blumen und ließ den Prinzen unbeschadet durch.

„Klick“ macht die große Standkamera. Der Fotograf ist unzufrieden, denn die Braut will nicht lachen. Ist's die falsche Braut? „Kein Blut ist im Schuh“ – ohne Zweifel – „die rechte Braut, die führt er heim.“ Also lachen wir ihr aufmunternd zu. „Klick“ – jetzt klappt es besser. „Klick“ im Schloßhof, „Klick“ im Garten, „Klick“ im alten Gemäuer, „Klick“ vor dem Pferdegespann, „Klick“ vor dem Standesamt Sababurg, Außenstelle Hofgeismar – eine Fotoserie vom klassischen Happy-End fürs spätere Familienalbum. Im Schloßhotel feiern an diesem Tage acht Hochzeitsgesellschaften. Ging es auf dem platten Land noch bäuerlich und kleinstädtisch zu, so wird hier auf der legendären Burg der Adel nachexerziert. Höfisch heiraten ist chic. Die Gesellschaften sind stilecht im Outfit des englischen Königshauses angereist. Die Damen tragen flatternde Kleider und breitrandige Hüte, die Herren fallen kaum auf. Eine Kaffeefahrtgesellschaft von alten Leuten, die dem Schauspiel beiwohnt, ist augenscheinlich entzückt.

Das Rad der Geschichte scheint sich rückwärts zu drehen. Die Märchenstraßen-Szenerien evozieren Bilder der Vergangenheit, die man längst eingemottet glaubte. Allmählich beschäftigt mich die Vorstellung, daß die Mädels auf den Dörfern wieder Trachten tragen und die Buben Drachen oder andere phantasierte Ungeheuer jagen, bevor sie schöne Prinzessinnen freien. Dem Märchenland, das von der Aktivierung dieser Bilder lebt, scheint zumindest die konsequente Restaurierung des Biedermeier nicht fern zu sein.

Wie damals schon die Bremer Stadtmusikanten machen wir uns baldigst auf den Weg nach Bremen. Da soll es – frei nach den Grimms – eine bessere Zukunft geben. Die Provinz werden wir in dauerhafter Erinnerung behalten, weil sie uns so authentisch deutsche Gemütsbestände präsentiert.

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