: „Es gilt, wachsam zu sein“
■ Die Rotenburger Anstalten decken ihre Geschichte zur Zeit der Nazi-Herrschaft auf
Frau B. erinnert sich auch heute noch klar an ihre damalige Angst, abtransportiert zu werden. Sie sieht, daß nur die schwächeren Betreuten mit den Bussen abgeholt werden. Daß mit diesen Menschen etwas Schlimmes geschehen ist, vermutet sie, wie sie heute erzählt, schon bald, da die Kleidung der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner wieder in die Einrichtung zurückgesendet wird. Frau B. wurde aufgrund ihrer Arbeitsleistung für die Anstalt nicht deportiert.
Ein kleines Kapitel aus der Geschichte der Rotenburger Anstalten in den Jahren 1933 — 1945. Ein kleines Kapitel in einer Folge von über 1.000 Einzelschicksalen. 1940 lebten dort über 1.100 behinderte Menschen, über 500 sind von den Nazis ermordet worden.
Erst jetzt hat sich die Innere Mission als Träger der Anstalt für geistig Behinderte an ihre Vergangenheit herangewagt. Doch die gut neunzigseitige Broschüre „Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel?, die dabei herausgekommen ist, stieß nicht überall auf Zustimmung.
Für die Herstellung des Buches hatte der Träger einen Zuschuß von 2.000 Mark von der Stadt Rotenburg beantragt. Die CDU-Fraktion wetterte dagegen. Der Auftritt des Fraktionsvorsitzenden Friedrich Kuhle wird im Protokoll der Sitzung wie folgt beschrieben: „Wenn die Anstalten der Meinung seien, ihre Geschichte aufarbeiten zu müssen, habe er nichts dagegen. Aber es sei nicht Sache der Stadt. Auch wenn teilweise die Meinung vertreten werde, daß die Stadt dazu moralisch verpflichtet sei, weil im Umfeld von Rotenburg mehr Braune gewesen seien als anderswo. Dieses Argument könne er nicht gut heißen und auch nicht hinnehmen.“ Kuhle kam nicht durch, der Stadtrat stimmte dem Antrag zu.
Die Mauer des Schweigens in Rotenburg wurde 1986 von Michael Quelle mit einer Staatsexamensarbeit „Die Rotenburger Anstalten in den Jahren 1933-45“ (Uni Bremen) durchbrochen. Als die Arbeit vorlag, informierte der Vorsteher der Anstalten, Pastor Wolfhermann Sprick, alle MitarbeiterInnen und stellte erstmals öffentlich die Ermordung ehemaliger BewohnerInnen der Anstalten unter der Nazi-Herrschaft fest.
Von diesem Zeitpunkt an setzte sich die Anstaltsleitung mit dem Thema auseinander. Erstes Resultat: Ein Mahnmal, 1987 zum Gedenken an die Opfer der Unmenschlichkeit auf dem Kirchhof der Anstaltskirche errichtet. „Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel“ dokumentiert jetzt die Einrichtung von Zwischenlagern, in denen die Behinderten auf ihre Deportation warten mußten, um später vergast zu werden, berichtet über die medizinischen Versuche an den Menschen und die systematische Vernichtung durch Unterernährung.
Die damaligen Leiter der Rotenburger Anstalten wußten, was mit den Menschen geschah, und die heutige Anstaltsleitung ist sich dessen bewußt. „Möge diese Dokumentation dazu beitragen, daß bei uns, den Lebenden, das Gewissen geschärft wird in der Verantwortung für behinderte Menschen. In der Vergangenheit wurde den Anfängen zu wenig gewehrt. Darum gilt es heute, wachsam zu sein, wenn ähnliche Gedanken über sogenanntes „lebenswertes und unlebenswertes Leben“ neu aufkommen“, schreibt Anstaltsleiter Sprick in seinem Vorwort. Vivianne Agena
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