„Es wird kein Moslem in Bosnien bleiben“

■ Enttäuscht über den Rückzug, glauben viele der Flüchtlinge aus Jajce an Verrat

Turbe (dpa) – Was sich da als endloser Zug des Elends zu Fuß, auf dem Traktor, auf Anhängern, Lastwagen, Pferden, gepanzerten Fahrzeugen und Karren auf der Straße fortbewegt, ist nichts anderes als der Exodus fast der gesamten Bevölkerung einer Stadt. Jajce ist gefallen, und seine Bewohner versuchen, sich zusammen mit den geschlagenen Verteidigern mitten durch serbisches Gewehrfeuer bis zur Stadt Travnik zu retten.

Bis zum Samstag nachmittag hatten 25.000 Flüchtlinge und ein kläglicher Rest der Armee von etwa 7.000 Soldaten die neue bosnische Frontlinie bei Karaula passiert und durch das vorgelagerte Dorf Turbe das rettende Travnik erreicht. Dort wurde der Flüchtlingsstrom, der sich in alle Straßen und Gassen von Travnik ergoß, notdürftig versorgt und untergebracht. Am Sonntag kamen weitere 15.000 über den Weg, der von vielen bereits „die Straße von Vietnam“ genannt wird. Der Rauch ihrer Lagerfeuer und kleinen Kocher hängt in der Luft. Es riecht nach dem Mist und dem feuchten Fell der Pferde; viele Menschen legen sich erschöpft zu den Tieren aufs Stroh, um auszuruhen.

Die meisten Soldaten bewegen sich vorsichtig zwischen den Pferden und Wagen der Flüchtlinge und unterscheiden sich in ihrer Verlorenheit in nichts von den Zivilisten. Andere jedoch können die Niederlage nicht verwinden und kompensieren sie mit demonstrativen Männlichkeitsritualen: Sie betrinken sich und grölen in den Bars Lieder von Kampf und Sieg und feuern Schüsse in die Luft. „Idioten“, meint eine junge Frau in der Uniform der bosnischen Armee. „Sie haben Jajce verloren und führen sich jetzt auf als die Helden von Travnik.“

„Wir fühlen uns völlig überrannt und überwältigt“, meint Anders Levinsen, Vertreter des UNO-Flüchtlingskommissariats (UNHCR). „Wir haben noch niemals so viele Menschen auf einmal zu versorgen gehabt.“

Unter den Flüchtlingen kursieren Geschichten von Schießereien, Verrat, Verlust und blutigen Füßen. Es heißt, elf Menschen seien beim Marsch durch die serbischen Linien getötet und 60 weitere verwundet worden. Das Schießen setzte auf der Strecke von Karaula nach Turbe unmittelbar nach einer Waffenstillstandsabsprache zum Austausch von Gefangenen ein. Walter zum Beispiel meint wie viele seiner Kameraden, es sei Verrat im Spiel, es habe eine geheime Absprache hinter dem Rücken der Kämpfer gegeben, die zur Übergabe von Jajce und des gesamten Verteidigungsrings um die Stadt geführt habe. „Es ist ein Rückzug ohne einen einzigen Schuß. Wir haben die Front gehalten. Und plötzlich hieß es, wie sollten aufgeben. Ich weiß nicht, wie es weiter geht. Ich werde mich für Travnik nicht mehr in den Kampf werfen. Jeder Mann, den wir verloren haben, ist umsonst gestorben.“

Die mit dem meisten Glück unter den Flüchtlingen in Travnik haben Unterkunft in einer bereits mit Flüchtlingen aus Nord-Bosnien überfüllten Schule gefunden. „Alles, was wir hatten, ist zerstört“, erzählen Naim und Hamida Karaga. „Wohin es jetzt geht? Nur Gott weiß es. Europa will uns nicht haben, das ist klar. Vielleicht sieht es in den arabischen Ländern besser für uns aus. Eines aber ist sicher: Es wird kein einziger Moslem in Bosnien zurückbleiben.“ Ed Vulliamy (The Guardian)