: Brände löschen mit Biedermännern?
■ Unter dem Motto "Die Würde des Menschen ist unantastbar" mobilisiert ein breites Bündnis zur Demonstration gegen Rassismus am Sonntag in Berlin. Hingehen oder nicht? Die bundesrepublikanische Linke ist...
Brände löschen mit Biedermännern?
Seit in Rostock-Lichtenhagen die Unterkünfte der Asylbewerber brannten, reagierte die demokratische Öffentlichkeit mit einer zweifachen Forderung: der Staat muß die ihm zu Gebote stehenden Zwangsmittel rückhaltlos gegen den rechtsradikalen Mob einsetzen und die Bürger-Gesellschaft muß durch Massendemonstrationen wie durch couragiertes Auftreten jedes Demokraten gegenüber der „Asylschwemme“-Hysterie die Initiative zurückgewinnen. Beide Ziele waren und sind nur zu erreichen, wenn sich zur Verteidigung des Rechtsstaats und der Demokratie Koalitionen bilden, die die politischen Lagergrenzen überschreiten. Unmittelbar nach Rostock wurde das Beispiel des französischen Präsidenten Mitterrand, der zwei Jahre vorher an der Spitze einer Hunderttausende zählenden Demonstration gegen die Schändung jüdischer Grabmäler marschiert war, ins Feld geführt, um gleiches von Weizsäcker zu fordern. Mit einiger Verspätung reagierte der Bundespräsident. Er übernahm die Schirmherrschaft für eine parteienübergreifende Demonstration gegen Ausländerhaß und Rassismus am 8. November in Berlin.
Gegen diese Demonstration werden moralische und politische Einwendungen geltend gemacht. Deren wichtigste lautet: Mit den Brandstiftern ist keine erfolgreiche Löschaktion möglich. War es nicht Volker Rühe in seiner damaligen Funktion als Generalsekretär der CDU, der mit seiner Aufforderung, die „Asylantenflut“ zum beherrschenden Thema der Innenpolitik zu machen, zum eigentliche Urheber des ausländerfeindlichen Massenwahns wurde? Und, noch gravierender: ist es nicht der Bundeskanzler in Person, der, um eines angeblich drohenden Staatsnotstandes Herr zu werden, das Grundgesetz dadurch brechen will, daß er verfassungsändernde Gesetze zum Asylrecht mit einfacher Mehrheit durchpeitschen will? Ist das kleinste gemeinsame Vielfache jeder antifaschistischen und antirassistischen Aktionseinheit, die Verteidigung des Rechtsstaats, nicht gerade durch diejenigen Politiker in Frage gestellt, die zu der Berliner Demonstration aufrufen? Alles nur Lug und Trug? Die einzig mögliche Antwort auf diese Argumente lautet: Jetzt erst recht!
In der gegenwärtigen Situation ist die Entlarvungsstrategie noch hilfloser, noch unnützer, als sie es immer schon war. Es kommt nicht darauf an, Kohl, dem Heuchler, die Maske des Biedermanns vom Gesicht zu reißen. Es kommt nicht darauf an, mit denjenigen allein zu bleiben, die durch ihr Denken wie durch ihre Praxis längst bewiesen haben, daß sie für eine menschenfreundliche Gesellschaft eintreten. Ziel der Demonstration muß es sein, die an ihr teilnehmenden Vertreter der politischen Klasse festzunageln. In dem Aufruf zur Demonstration, in den spät genug erfolgten politischen Erklärungen von Weizsäckers und anderer Demonstrationsunterstützer findet sich schon jetzt genug Material für einen demokratischen Konsens, auf dessen Basis sowohl entschlossenes Handeln gegen den Mob als auch eine Verteidigung des Grundrechts auf Asyl eingefordert werden können. Daß dies so ist, beweist die Reaktion der CSU. Wir werden Zeugen eines politischen Differenzierungsprozesses auf der Rechten, an dessen Ende die Abspaltung des nationalistisch-populistischen Flügels der Christdemokraten stehen könnte. Für die Verteidigung der Demokratie ist jeder Schritt, der eine solche Entwicklung befördert, nicht schädlich, sondern nützlich.
Wer „beschmutzt“ sich eigentlich durch die gleichzeitige Teilnahme des politischen Gegners an der Demonstration? Die Vertreter der „politischen Klasse“ oder die engagierten Demokraten und Ausländerfreunde? Das Führungspersonal der politischen Parteien verabscheut jeden plebeszitären, direkt-demokratischen Luftzug. Sich mit den Teilnehmern einer Massendemonstration gemein zu machen – und sei es auch in der ersten Reihe – beinhaltet das Eingeständnis, daß die Verteidigung der Demokratie nicht von dem noch so transparenten gläsernen Neubau in Bonn am Rhein geleistet werden kann, daß der Souverän eben auf mehr Anspruch erheben kann als auf das Kreuzlein alle vier Jahre.
Eine Manifestation von 100.000 wird das politische Klima im Land verändern
Die Demonstranten, soviel ist sogar den Politikern klar, werden keine dumpfe, manipulierte Applausmaschine abgeben, obwohl manche, auch bei den Linken, das so sehen wollen. Sie werden zuhören und urteilen. Sie werden auch den Mitdemonstranten zuhören, die sich nicht in abweisenden, hermetischen Oppositionsblöcken verschanzen. Wo gibt es sonst die Gelegenheit, mit Leuten aus dem Haus, aus der Nachbarschaft zu sprechen, die niemals an einer Demo teilgenommen hätten, wären sie nicht vom Bundespräsidenten dazu eingeladen worden? Und was kann aus einer solchen Teilnahme für ihr künftiges politisches Selbstbewußtsein folgern? Es wäre ein gefährlicher Fehler, aus den schäbigen Absichten eines Großteils der Veranstalter auf ebenso schäbige politische Folgen der Berliner Demonstration zu schließen. Eine Manifestation von 100.000 Menschen wird nicht nur diejenigen stärken, die sich an ihr beteiligen. Sie wird das politische Klima in diesem Land verändern. Sie wird damit auch das Geschäft derer erschweren, die unter Hinweis auf den angeblich drohenden allgemeinen Volkszorn behaupten, die Abschaffung des Artikels 16 dulde nicht mehr den geringsten Aufschub.
Sicher haben die Veranstalter die Demonstration nicht zuletzt beschlossen, um kritische Stimmen des Auslands zu beruhigen. Aber weit davon entfernt, beruhigt zu sein, werden diese demokratischen Kräfte, die bisher mit angehaltenem Atem die gesellschaftliche Tatenlosigkeit in Deutschland angesichts des Terrors verfolgten, sich zu kräftigeren Interventionen ermutigt fühlen. Und ihre Ansprechpartner werden, das lehrt die bisherige Erfahrung, nicht nur und nicht in erster Linie unter den Vertretern der politischen Klasse zu finden sein. Die Ausländer, vor allem die politisch Engagierten, werden neuen Mut schöpfen, die jüdischen Mitbürger, deren Organisationen übrigens ausnamslos zur Teilnahme an der Demonstration aufgefordert haben, werden in den Demonstranten Menschen erkennen, die, wenn nötig durch persönlichen Einsatz, für ihre Sicherheit eintreten werden. All diese positiven Wirkungen werden davon abhängen, daß an dieser Demonstration wirklich die Massen teilnehmen, auch die linken Massen. Keineswegs schließen sich die verschiedenen Demonstrationsprojekte, am 4. und 8. in Berlin, am 14. November in Bonn, gegenseitig aus. Dies zu behaupten führt uns auf eine sektiererische Linie der politischen Aktion zurück. Wer für das Grundrecht auf Asyl, wer für eine humane Einwanderungspolitik, wer für gesellschaftliche Mobilisierung gegen den Terror eintritt, der wird auch und gerade am 8. November eine politische Ausdrucksmöglichkeit finden. Ich plädiere für die Teilnahme. Christian Semler
Am 8. November will die politische Klasse, mit Ausnahme der CSU, die den von Teilen der CDU und SPD eingeschlagenen Rechtskurs konsequent befolgt, in Berlin für die Würde des Menschen demonstrieren. Diese Demonstration kommt, was die allgemeine Stimmung angeht, zu spät. Denn spontaner Antirassismus ist des politischen Establishments Sache nicht. Die mühsam und langsam inszenierte Geste des guten Willens dürfte den Schaden, den die Asyldebatte angerichtet hat, kaum noch heilen. Die jüngsten Umfragen belegen, daß Ausländerfeindlichkeit unter den Deutschen so stark verbreitet ist wie seit den vierziger Jahren nicht mehr.
Demgemäß kommen bei dieser Demonstration konsequente Verfassungsfreunde nicht zu Wort. Der als kleinster gemeinsamer Nenner gekürte einzige Redner (der Bundespräsident) wird nicht für den Erhalt des Artikels 16 GG in seiner jetzigen Form sprechen. Redner oder Rednerinnen, die dies täten, würden den mühsam geschmiedeten Minimalkonsens stören und sind deshalb gar nicht vorgesehen. Dieser Umstand allein belegt schon, daß in diesem Land keineswegs nur linke oder radikaldemokratische, sondern schlicht rechtsstaatliche Positionen in der Defensive sind. Angesichts eines in der gegenwärtigen Debatte zum „Souverän“ aufgeputzten „gesunden Volksempfindens“ darf die bestehende Verfassung nicht einmal mehr genannt werden. Unterdessen bereitet der Kanzler, der ebenfalls für die Würde des Menschen demonstrieren möchte, den Verfassungsbruch vor. Sollte eine Änderung der Verfassung nicht zustande kommen, will er sich unter Berufung auf einen „Staatsnotstand“ über sie hinwegsetzen. So stehen Republik und Verfassung im Herbst 1992 unter Belagerungszustand.
Daß die Bastionen des bürgerlichen Staates durch die beratende Öffentlichkeit einer selbstbewußten Bürgergesellschaft in Schach gehalten würden – in einer Belagerung ohne Eroberungsabsicht –, war dies nicht der Traum einer neuen Demokratietheorie?
Vor den Flammen der Pogrome verkehrt sich diese Theorie. Bedrängt von einer rassistischen Rebellion, die an die Stelle symbolischer Regelverletzungen die Verletzung von Menschen zu ihrem Symbol erhebt, steht das politische System der Bundesrepublik an der Grenze zur Selbstaufgabe. Der Anlaß zu diesem Belagerungszustand aber, die „Asylfrage“, ist hausgemacht. Mit dieser Debatte, die als realen Hintergrund Unterbringungsengpässe der Kommunen aufweist, hat sich die Parteiendemokratie lahmgelegt und ihren Feinden Tür und Tor geöffnet. Warum?
Die Debatte als Scheingefecht zugunsten der Rechtspopulisten
In einem nur auf dem Verhältniswahlrecht beruhenden parlamentarischen System sind es nie mehr als fünf bis zehn Prozent der Wähler, die die Zusammensetzung von Regierungen bestimmen. Die Vorlieben und Abneigungen zumal rechts stehender WählerInnen schienen in diesm Sinn gut kontrollierbar. Die Politikplaner der CDU haben sich deshalb stets um die Stimmen dieser Gruppen bemüht – Franz Josef Strauß sogar mit Erfolg. Freilich kann Politikplanung fehlendes Charisma nicht ersetzen. Als der vormalige Generalsekretär der CDU, Rühe, die Mandatsträger seiner Partei aufforderte, das „Asylthema“ hochzuspielen, nahm der selbstzerstörerische Kurs der deutschen Innenpolitik seinen Lauf. Denn der Glaube, man könne in einem bürgerlich moderaten bis konservativen Milieu fremdenfeindliche Emotionen an- und ausknipsen wie eine Lampe, trog. Die Anstrengung der CDU, über die „Asylfrage“ Meinungsführerschaft zu erobern, bestärkt lediglich all jene, die das schon immer für das wichtigste Thema hielten, darin, einer hier glaubwürdigen rechtspopulistischen Partei die Stimme zu schenken. Die Verluste der CDU werden übrigens nicht dadurch ausgeglichen, daß auch Gruppen von SPD-Wählern, nämlich die vom sozialen Tod bedrohten Teile der alten Industriearbeiterschaft, von diesen Parolen ergriffen werden. Auch sie rücken weiter nach rechts.
Beeindruckt von der Schimäre, es könne ausgerechnet in der Zuwanderungsfrage noch jene entscheidungs- und handlungsfähige Politik geben, an die in Fragen des Wohnungsbaus und der Arbeitsplätze ohnehin niemand mehr glaubt, fordern sie für die Rückkehr zur Mutterpartei den symbolischen Liebesbeweis einer reaktionären Verfassungsänderung.
Hier mißt die Öffentlichkeit übrigens mit zweierlei Maß: was man den „Wertkonservativen“ in der christdemokratischen Partei als Anbiedern beim Rechtspopulismus vorhält, wird Björn Engholm mit bedeutungsschwerem Unterton als „Zuwendung zu den Deklassierten“ zugute gebracht. So dient die Debatte zwischen den Volksparteien nur als Scheingefecht zugunsten der Rechtspopulisten.
Darüber hinaus haben sich die Volksparteien angestrengt, dem Wahlvolk die These von der „Unregierbarkeit“ moderner Demokratien unwiderleglich zu beweisen. Der sichere Griff, mit dem sie die schwierigste aller Fragen, die Zuwanderungsproblematik, als lösbar suggerieren, beweist schlagend, daß Überlegungen zur „Unregierbarkeit“ sogar dann nicht beherzigt werden könnten, wenn sie verstanden würden. Das kurzfristige Interesse, die nächsten Wahlen zu bestehen, verbietet es, komplexe Problemlagen ehrlich zu erörtern.
Es bleibt dabei, der Belagerungsring von rechts zieht sich zu
Die vor dieser Kulisse inszenierte Berliner Demonstration wird in ihrer Wirkung wahrscheinlich verpuffen, weil sie in Wahrheit ohne die Kommentare der New York Times und die Angst vor den Investitionsabsagen japanischer Firmen erst gar nicht zustande gekommen wäre.
Bei alledem bringen Streibl und Waigel mit ihrer Weigerung teilzunehmen nur auf den Punkt, was an Sorgen in den Köpfen jener, die nun demonstrieren gehen müssen, ohnehin herumspukt. Das beifällige Lob, das Franz Schönhuber seinen bayerischen Gesinnungsfreunden zollt, ist übrigens nur ein Vorgeschmack. Der Bundestag kann sich bei einer Verfassungsänderung schon jetzt des gedämpften Beifalls der Rechtspopulisten sicher sein. Können sie doch darauf hinweisen, daß nun endlich jene Forderungen aufgenommen werden, für die sie noch vor zehn Jahren von den im Bundestag sitzenden Parteien geschmäht wurden.
Es bleibt also dabei: ob sich der Belagerungsring von rechts um diese Republik weiter zuzieht, hängt von dem Verantwortungsbewußtsein, der Rechtsstaatlichkeit und der Standfestigkeit der SPD ab. Deshalb sollte die liberale Öffentlichkeit am 14.11. in Bonn jenen Parteimitgliedern, die der Verfassung die Treue halten, demonstrieren, daß sie in diesem Lande nicht alleine sind. Micha Brumlik
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