■ Die Wiederherstellung einer klassischen Mittelmacht: Kinkel, der Normalisierer
„Ich schäme mich nicht, zu sagen, daß ich als deutscher Außenminister auch deutsche Interessen vertrete.“ Diese Äußerung Klaus Kinkels kennzeichnet gleich in doppelter Weise die neue Strategie deutscher Außenpolitik. Erstens soll sie wieder deutsche Außenpolitik werden – man versteckt sich nicht mehr hinter der EG, dem Atlantischen Bündnis der KSZE oder anderen multilateralen Organisationen –, und zweitens, Kinkel macht auch keinen Hehl daraus. War westdeutsche Außenpolitik bis zur Vereinigung primär als flankierende Maßnahme zur Exportsteigerung gedacht, so will Kinkel jetzt den formalen Erfolg der Zwei-plus-vier-Gespräche auch faktisch nach Hause bringen: Außenpolitik gemäß dem souveränen Deutschland in der Mitte Europas.
Seit seinem Amtsantritt hat Kinkel dieses Ziel fest im Auge und entsprechend konsequent verfolgt. Zu seinen ersten Entscheidungen gehörte im Frühjahr die Aufhebung des Lieferstopps deutscher Waffen in die Türkei. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger macht der Neue aus seinem Herzen auch keine Mördergrube und erklärte ohne jede Verbrämung, die geographische Lage des Landes lasse einen weiteren Boykott nicht zu. Dasselbe gilt jetzt auch für China. Der Mann, der sich in Menschrechtsfragen von niemandem übertreffen lassen wollte, hat sich schnell zu der Ansicht durchgerungen, daß das, was für Deutschland gut ist, auch für chinesische Dissidenten gut sein muß.
Kinkels Haupthindernisse auf dem Weg zur Normalisierung sind aber nicht solche Randfragen, sondern vor allem die fehlende militärische Macht zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen und das täglich genährte Mißtrauen gegenüber der deutschen Normalität im Ausland. Wie soll man die Fesseln der Vergangenheit abstreifen, wenn man jeden Tag drei Stunden darauf verwenden muß, begriffsstutzigen Ausländern zu erklären, daß Flüchtlingsheime anzünden noch kein Volkssport geworden ist? Wie soll man im Kreise der Nato-Außenminister brillieren, wenn man bei der Gretchenfrage nach den Truppenkontingenten immer nur bedauernd auf das Grundgesetz verweisen kann? Der Mann leidet unter diesen Mißständen.
Doch die Erfahrung aus früheren Wirkungsfeldern Kinkels lehrt uns: Er wird es schaffen. Seine politische Umtriebigkeit einerseits und seine scheinbar burschikose Naivität andererseits sind genau die Mischung, die es braucht, um Deutschland in den Kreis der Großmächte zurückzuführen. Die geballte Ladung an Gutmütigkeit, die Kinkel ausstrahlt, läßt gar keinen Raum für Unterstellungen der niederen Art. Jürgen Gottschlich
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