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Auch Berlin wählt Clinton

Wahlparty im anfangs rappelvollen Amerika-Haus: Jubel über Clintons Sieg/ Bei der Entscheidung waren bereits viele Gäste im Bett  ■ Von Bernhard Pötter

23.35 Uhr. Drei Stunden vor den ersten Hochrechnungen ist in Berlin die Stimmung auf dem Höhepunkt. Die sonst so grimmigen Wachmänner am Eingang blicken gelassen in den Trubel. Das Haus ist brechend voll, vorwärts geht es nur millimeterweise und durch heftiges Drücken und Schieben. In jeder Ecke flimmern die Wahlsendungen von CNN oder NBC. Die Wände sind mit „Bush/Quayle“ oder „Clinton/Gore“-Plakaten verziert, von der Decke baumeln Uncle-Sam-Zylinder mit Coca-Cola-Werbung.

0.15 Uhr. Die mühsame Inspektion der Räume zeigt, daß das Publikum je zur Hälfte aus Politikern und Journalisten besteht. Der Berliner SPD-Chef Ditmar Staffelt gibt kaugummikauend ein Interview nach dem nächsten, er ist für Clinton. In der anderen Ecke des Saales doziert Walter Momper über „the times are changing“. Kein Prominenter ist sicher vor dem Mikro, das ihm die Fernsehteams hinterhältig ins Gesicht stoßen.

0.45 Uhr. Ein Raunen erfaßt die Massen. Eine erste Hochrechnung? Weit gefehlt: MacDonald's wirft frittierte Hühnerstücken unters hungrige Partyvolk. Die Besucher balgen sich um das Essen. Zur Erfrischung laufen an diesem Morgen 1.000 Liter Bier und 50 Paletten Coke-Dosen durch durstige Wahlkampfkehlen.

1.00 Uhr. Die ersten Vorhersagen treffen ein: Die Staaten Georgia, Vermont und New Hampshire gehen an Clinton, Indiana an Bush. In der Wertung der Wahlmänner steht es damit 20:12 für den Demokraten, 270 braucht er für den Sieg. Auf den Fernsehmonitoren färben sich die Staaten blau (Clinton) oder rot (Bush). Auf der großen Wandtafel im Amerika-Haus wird es tierisch: Die Staaten werden mit roten Elefanten für die Republikaner oder blauen Eseln für die Demokraten gekennzeichnet.

1.15 Uhr. Berlin hat entschieden. Bei der hausinternen Abstimmung geben 255 Teilnehmer ihre Stimme für Clinton. Bush und Perot sind mit 40 und 34 Stimmen weit abgeschlagen.

1.45 Uhr. Der Proviant geht zu Ende, das Buffet ist leergefegt. Die hungrigen Mägen müssen sich mit knochentrockenen Kräckern abspeisen lassen.

2.00 Uhr. Erster Jubel der Demokraten vor den Bildschirmen. Die Ostküste der USA wird blau, auf der Karte drängeln sich die Esel. Clinton führt mit 151:12. Steve Vaillancourt aus dem Staat New Hampshire notiert euphorisch die Daten: „That's it, man! Wenn selbst Staaten wie Georgia und New Hampshire für Clinton stimmen, wird er Präsident. Bush ist zu weit nach rechts gedriftet, Clinton ist die Mitte. Ich habe noch nie für einen Gewinner gestimmt – bis heute! Das ist eine sehr gute Nacht!“

3.00 Uhr. Clinton führt mit 239:28. Das blaue demokratische Meer kriegt vereinzelte rote Flecken. Aus Perots Null auf der Tafel hat jemand ein weinendes Gesicht gemacht. Die Gäste gehen nach Hause, nur im ersten Stock ist noch Stimmung. Hier bejubeln College- Studenten in den Sweatshirts ihrer Universitäten vor einer großen Videowand jeden demokratischen Erfolg. Die Dekoration wird zum begehrten Souvenir. Wer keinen Wahlbutton bekommen hat (manche haben aus Unentschlossenheit oder Opportunismus gleich beide Buttons am Hemd stecken), bedient sich jetzt bei den Plakaten. „Welches ist eigentlich die Fahne von Arkansas?“ erkundigt sich eine Frau und läßt begehrliche Blicke über die 50 Fahnen wandern, die unter der Decke hängen.

4.30 Uhr. Die Bush-Anhänger sind zu Hause oder stumm: Clinton führt mit 254:55. Die Spannung steigt: Welcher Sender wird Clinton zuerst zum Präsidenten erklären? Um 4.47 Uhr unterbricht CNN die internationalen Nachrichten mit der erlösenden Meldung: Ohio geht an Clinton, damit hat er 286 Stimmen und ist Präsident. Kamerateams machen Jagd auf die letzten verbleibenden Amerikaner im Saal für ein Interview.

5.15 Uhr. Auch die Westküste wählt Blau: Clinton führt jetzt mit 362:64 Stimmen. George Bush dankt seinen Mitarbeitern, schmeichelt den Amerikanern und liebt seine Frau. Dan Quayle lobt sich selbst, liebt die Wähler, dankt seiner Frau und verkündet: „Wir werden uns auch in Zukunft zu Wort melden.“ – „Ja, und niemand wird dir zuhören!“ kommt prompt die Antwort vor den Fernsehschirmen.

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