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Die Revolution als Dionysium

Das Filmmuseum Potsdam zeigt Filme zur Oktoberrevolution, die die Geschichte neu schreiben  ■ Von Oksana Bulgakowa

Wenn heute in Moskau eine Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Oktoberrevolution, immerhin dem 75., stattfinden würde, gäbe es im Anschluß womöglich den Film von Stanislaw Goworuchin, „Rußland, das wir verloren haben“ — der einzige russische Film zum Thema, auch die einzige nationale Produktion im laufenden Kinoprogramm.

Mit „verloren“ meint Goworuchin natürlich Rußland vor 1917, „vor der Ankunft des Antichristen“ das reichste Land der Welt, mit der klügsten und moralischsten Staatsorganistation, mit der Zarenfamilie als sittliche Stütze der Nation und ihren Gegenspielern, den Dämonen, Terroristen, Sozialdemokraten, Bolschewiken, die dieses Paradies zerstört haben. Neuer Geschichtsunterricht, wieder ein „Kurzer Abriß“. Der Gerichtsprozeß gegen die Kommunistische Partei, der wie zur Unterhaltung der Bevölkerung allabendlich ausgestrahlt wird, würde das Programm komplettieren, nur schaut keiner mehr zu, hört keiner mehr hin: die Fernsehbilder laufen mit abgedrehtem Ton, die Zuschauer gestalten das Gericht auf diese Weise mit.

Nicht die Beschwörungen des Oktobers oder der Glückseligkeit davor, sondern den Alltag hat über das historische Gedächtnis gesiegt.

Ein kleiner Aufstand am 25. Oktober in Petrograd, der zur Verhaftung der provisorischen Regierung im nicht geschützten Winterpalais führte und es den Bolschewiken erlaubte, ihren Sieg zu erklären, war eher ein symbolischer Akt (der reale Kampf um die Macht wurde dann auf dem Territorium des ganzen Landes vier lange Jahre geführt) und konnte nur in späteren Darstellungen zum großen historischen Ereignis aufgeblasen werden. Um diesen Tag wurde das symbolische System der neuen Staatsordnung gebaut, und die Kunst war die erste Helferin in diesem Prozeß. Die Wiederholung der Revolution alljährlich in Massenpantomimen, in den unzähligen, vom Staat bestellten Aufwandsfilmen, dargestellt von Tausenden von Statisten, entwickelte sich zu sozialistischen Dionysien, zur neuen kommemorativen Handlung, in der jede jüngere Generation den historischen Umsturz mit dem „eigenen Leib“, einem Teil der Masse, erleben sollte.

Die Historie verwuchs zum Ritual, und das Oktobernachspiel war als eine neue Initiation installiert.

Eine erste größere Reproduktion wurde bereits am 7. November 1920 von den russischen Theateravantgardisten verwirklicht. Ihr theoretischer Kopf Nikolai Jewrenow entwickelte Anfang des Jahrhunderts die Idee von der Theatralisierung des Lebens: jede Alltagshandlung, vom Zähneputzen bis zum Schlipsanlegen, ritualisiert sich allmählich und wird zum Verwandlungsspiel (Anlegen der Maske, Anprobieren der sozialen Rolle).

Das Desaster unseres Alltags, so Jewrenow, bestehe darin, daß die großen theatralisierten Ereignisse (Hinrichtungen, Revolutionen, Manifestationen) aus dem öffentlichen Leben verschwanden, was die Menschen deformierte und zu tiefen Depressionen führte.

Militär-, Staats-, Kirchen- und Justizgebaren sollten bewußt inszeniert werden. In einer grandiosen Massenpantomime, die die Erstürmung des Winterpalais' wiederholte, sah Jewrenow eine Möglichkeit, die Theaterinstinkte neu zu beleben. Achttausend Mitwirkende und hunderttausend Zuschauer versammelten sich an diesem Tag vor dem Winterpalais, was die tatsächliche Zahl der am Oktoberaufstand Beteiligten weit übertraf. Vom Nachmittag an wurde am realen Platz eine grandiose Pantomime gespielt, dreihundertzwanzig Autos und gepanzerte Fahrzeuge waren in Bewegung, vierhundert erleuchtete Fenster des Palais wurden als Silhouettentheater benutzt. Die Koordinierung der Licht- und Toneffekte (Sirenen der Petrograder Fabriken und der Baltischen Seeflotte) war streng organisiert. Das Ganze war gedacht als „autobio-rekonstruierende Handlung“ (Jewrenow). Es bleibt ein Rätsel der Historie, wie Petrograd — diese von Hunger, Kälte und General Judenitsch bedrohte Stadt — solch ein grandioses Schauspiel auf die Beine stellen konnte, so viele Teilnehmer und Mitwirkende zu einen vermochte.

Das war nur möglich, weil das Spektakel militärisch organisiert war und das Regieteam wie ein Generalstab arbeitete (es erteilte Anweisungen mit Leuchtraketen und über Feldtelefone). Die Rote Armee rekrutierte die Agierenden wie Einberufene. Entweder waren es Soldaten oder Arbeiter aus Amateurzirkeln, und für die Teilnahme an den Proben gab es die begehrte Soldatenration: Hering, ein Achtel Brot und saure Drops. Es kam aber auch zu Zwangsengagements. Die technische Ausrüstung — Telefone wie Fahrzeuge — wurde ebenfalls von der Armee gestellt. Meyerhold und Eisenstein kritisierten damals diese „roten Königsprozessionen“ als „Drill anstelle lebendiger Kreativität der Massen“. Von dieser Handlung blieb ein zwanzigminütiger Dokumentarfilm erhalten. Leider konnten die gigantischen pyrotechnischen Spiele und das Schattentheater nicht photographiert werden, dazu taugten weder das Filmmaterial noch die Beleuchtungskapazitäten.

Als Sergej Eisenstein zehn Jahre später auf demselben Platz die Massen, angeführt von Iwan Podwoiski, dem Mann also, der die Matrosen auch am 25. Oktober 1917 angeführt hatte, zur dritten Erstürmung des Winterpalais trieb, mußte — um ein paar Minuten Filmaufnahmen zu ermöglichen — in der ganzen Stadt der Strom abgeschaltet werden: so viele Lampen wurden auf dem Platz aufgestellt.

Doch die dirigierten Massen gingen nicht den historischen Weg über den Seiteneingang. Eisenstein, ein besserer Regisseur als Podwoiski, schickte sie über das Haupttor, und dieser Sturm wurde zum akzeptierten Zeichen: viele Jahre hingen im Moskauer Revolutionsmuseum Bilder aus Eisensteins „Oktober“ als fotografischer Beleg des authentischen Ereignisses.

Der Film zielte aber nicht auf die Fakten, sondern schuf eine Reihe von Zeichen, die die Fakten ersetzten: die Revoluton wurde semiotisiert, und Eisenstein war ihr erster „Symbolisator“. Der Sturz der Selbstherrschaft wurde durch die Demontage des Zarendenkmals vermittelt, statt der Provisorischen Regierung verhaftete Antonow-Owsejenko die leeren Mäntel, die reale Erstürmung des Winterpalais wurde durch seine „ästhetische“ Einnahme ersetzt.

Später konnten solche Dinge nicht mehr passieren. Stalin prüfte die Drehbücher und die danach gedrehten Filme zur Revolutionsgeschichte besonders scharf.

Der nächste Jubiläumsfilm für 1937 wurde bei einem unbekannten Regisseur namens Michail Romm bestellt, und dieser inszenierte in seinem „Lenin im Oktober“ bereits, wie Stalin den Oktoberaufstand leitete.

Lenin tauchte hier als eine Stalins Handlungen segnende Instanz auf, Trotzki war nicht zu sehen, wie auch der zu dieser Zeit längst verhaftete Podwoiski, Antonow-Owsejenko und andere. Nur Kamenew/Sinowjew wurden als operettenhafte Verräter gebraucht. Nachdem der Staatsfilm über den Oktober sämtliche Details und die Mise en scéne festgelegt hatte, konnte das Muster in allen anderen Abgüssen vervielfältigt werden: als Oper, Ballett, Kinderfilm, Theaterstück und so weiter. Der Oktoberfilm wurde endgültig zum heiligen Genre mit festgelegter Ikonographie.

Erst nach der geheimen Rede Chruschtschows mußten neue Tricks erfunden werden, um Stalin aus den Filmen zu entfernen. (Als würde sein Verschwinden aus dem Bild die historische Situation ändern.) Sein Gesicht wurde übermalt oder mit einer einkopierten Lampe verdeckt, so daß hinter Lenins Rücken jeweils ein schwarzer Sonnenkringel sprang oder neben ihm eine Lampe in der Luft hing, hinter der ein Stück Schnurrbart hervorlugte. Und das, während Lenin den berühmten Satz über den Sieg der Oktoberrevolution ausrief! Einige Szenen wurde sogar neu gedreht, zwanzig Jahre später... So sah die aufwendige Geschichtsbewältigung im Film aus.

Doch auch nach all diesen Übungen wurden regelmäßig Oktober-Filme gemacht. Die letzte auffällige Produktion, Sergej Bondartschuks „Rote Glocken“, war eine Neuverfilmung des Buches von John Reed, damals Grundlage für Eisensteins Film. Als Muster dienten dem Regisseur die davor gemachten Filme, deren Arrangements noch einmal inszeniert wurden, nun in Farbe, mit Stereoton und im Breitwandformat, mit Hubschraubern, neuesten Beleuchtungsgeräten, zehntausend Statisten, dem höchsten Kamera-

kran und vielem mehr.

Der Oktoberaufstand im Film war nicht mehr als sozialistisches Dionysium zu verstehen, nicht zur Installierung des richtigen Geschichtsbildes, sondern als festes Genre der sowjetischen Filmkunst, das ständig mit neuer Technik aufgewertet werden konnte, wie der Western bei den Amerikanern oder Odysseus' Irrfarten bei den Italienern.

Einzig das Filmmuseum Potsdam ist auf die Idee gekommen, die roten Film-Träume zum Jubiläum aufzuführen, zur Erinnerung an die jedes Jahr Anfang November in der DDR veranstaltete „Woche des sowjetischen Films“.

Die Zusammenstellung des Programms jedoch wirkt höchst merkwürdig: die „roten Träume“ verwuchsen in den Köpfen der Veranstalter mit Märchenfiguren, so daß die Revolutionsmatrosen neben den feuerspeienden Drachen im Zauberwald agieren — als Auswüchse ein und derselben Phantasie: „Zwischen Baba-Jaga und Timurs Trupp, zwischen Väterchen Frost und Pawel Kortschagin entstand unser großes Bild von der Sowjetunion“, steht im Programm. „Und später, als die Gutgläubigkeit wie Putz von uns bröckelte, waren Filme von Dowshenko und Kalatosow, von Schukschin, Tarkowski, Michalkow... oftmals Zuflucht und Halt in unfrohen Zeiten.“

Bei der Gleichsetzung von Volksmärchen, sozialen Utopien, Dowshenkos Pantheismus, Kalatosows Tauwetter-Kranichen, Schukschins von der Sowjetmacht betrogenem Dieb und den Stil- Kreationen von Michalkow wird jeder Filmhistoriker aussteigen, vielleicht aber auch der Psychoanalytiker.

Sollen damit Folklore politisiert oder die Handlungen der Bolschewiki in märchenhafte Albernheiten verwandelt werden? In derselben Reihe sind auch „Tage aus Leben Ilja Oblomows“ zu sehen, eine ganz auf Stil setzende Verfilmung jenes russischen Schlüsselromans aus dem 19. Jahrhundert mit seiner Kritik der tatfremden russischen Seele, die bei Michalkow poetisiert und gegen den seelenlosen pragmatischen deutschen Geist ausgespielt wird. Vielleicht ist das als konstruktives Angebot zur Lösung des Nach-Oktober-Desasters zu verstehen? Wären die Russen nur in Oblomows Bett geblieben und hätten sie bloß nicht auf ein paar Verschwörer gehört, die im verplombten Zug aus Deutschland nach Rußland gekommen waren... Die Zusammenstellung der Reihe wirkt wie eine Bebilderung der neuesten Geschichtskonzeption aus Goworuchins Film: „Rußland, das wir verloren haben“. Nur mit einem Unterschied: die Interpretation ist unfreiwillig konservativ, versucht alternativ zu wirken, revitalisiert aber nur die Romantisierung der Vergangenheit. Die Stunde Null des Sowjetreiches als Paradies.

„Und was könnte spannender sein, als diesem Anfang die Filme des gegenwärtigen mühevollen Neubeginns, der ohne Utopie auskommen muß, gegenüberzustellen?“ heißt es weiter im Programm. Unter dieser Rubrik läuft hier „Gärten des Skorpions“ von Oleg Kowalow, eine Kompilation aus Filmen des Kalten Krieges, ein nostalgischer Seufzer, aber mit Untertext: Wo sind diese strahlenden Menschen gelieben, die mit der Utopie lebten? Die Helden von Kira Muratowas „Asthenischem Syndrom“ schauen auf die lausigen Hunde in der Abdeckerei wie auf ihre Spiegelbilder. Nur sind diese weder Traum noch Zuflucht, schon gar kein Neubeginn.

In Paris hingegen wird dieses Datum noch als Triumph, wenigstens als Triumph des Films, begangen. Die „Opera Bastille“ führt noch einmal Eisensteins „Panzerkreuzer ,Potemkin‘“ mit großem Orchester — zur Musik von Edmund Meisel — auf.

Am Ende der Seance soll Eisensteins ursprünglicher Premieren- Einfall realisiert werden: der Panzerkreuzer, der im letzten Filmbild auf die Zuschauer zufährt, soll die Leinwand „sprengen“ und die realen Helden der Geschichte präsentieren: damals (1927) eine Gruppe noch lebender Potemkin-Matrosen. Die Leinwand soll von einem „Photo-Schiff“ zerrissen werden, die Filmillusion dem Leben Platz machen.

Die Kunst wird hier zum Lernmodell; statt eines Traums und statt der sakralen Handlung. Vielleicht ist das ein Neubeginn.

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