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Enkel des Elends auf Rios Straßen

Die Zeiten, als schelmische Jungen Passanten anbettelten, sind schon lange vorbei/ Inzwischen bringen kaum 14jährige Mädchen die dritte Generation der Asphaltkinder auf die Welt  ■ Von Astrid Prange

Fürs Träumen ist sie schon zu alt. Rosimar da Conceicao, 14 Jahre, macht sich keine großen Illusionen, was ihre Zukunft angeht. Vor drei Monaten hat sie ihr erstes Kind zur Welt gebracht, das hat ihr die letzte Hoffnung geraubt. „Ich habe versucht abzutreiben, es hat nicht geklappt“, erklärt sie kühl.

Der Körper der 14jährigen läßt nicht den leisesten Rückschluß auf die kürzlich abgeschlossene Schwangerschaft zu. Die enganliegenden Shorts und das knappe grüne Oberteil enthüllen eine makellose Figur. Mit Lockenwicklern in den Haaren sitzt die junge Mutter im Innenhof der „Associacao Beneficiente Sao Martinho“, einer Art Tagesstätte für Straßenkinder im Stadtzentrum von Rio, und wartet aufs Mittagessen.

Rosimar lebt schon seit vier Jahren auf der Straße. Sie gehört einer Gang von 25 Jugendlichen an, die Rios Bürgersteige und Plätze zu ihrem Zuhause gemacht haben. Der Vater ihres Babies, für das sie noch keinen Namen gefunden hat, sitzt hinter Gittern, er wurde bei einem Raubüberfall festgenommen. Doch was macht das schon? Sie tröstet sich über den Verlust mit einem anderen hinweg. „Mein Freund und ich wohnen in einem besetzten Haus in Lapa (Stadtteil von Rio)“, sagt sie kurzangebunden.

Unter ihren Leidensgenossinnen ist es nichts Besonderes, unmittelbar nach der ersten Regel schwanger zu werden. Bei einer Lebenserwartung von 20 Jahren, Durchschnittsalter für Straßenkinder im Großraum Rio, wird es mit 14 Jahren höchste Zeit, für Nachwuchs zu sorgen.

„Die Mädchen sind auf männlichen Schutz angewiesen. Ihre erste Taufe auf der Straße ist der Geschlechtsverkehr“, erklärt Juca Ribeiro. Der Sozialarbeiter beginnt einen Vortrag über das Sexualverhalten von Jugendlichen auf der Straße, und Rosimar verzieht keine Miene. „Sie sind außerordentlich aktiv. Jede Gefühlsregung führt zum Geschlechtsverkehr“, so Ribeiro.

Die zweite Generation der Asphaltkinder wächst schnell heran. Allein in der Tagesstätte Sao Martinho baten in diesem Jahr sieben schwangere Teenager um Unterstützung.

Der 19jährige Sozialarbeiter Fabio da Silva ist sich sicher, daß auch Rosimar ihr Kind demnächst zur Adoption freigeben wird: „Die Mädchen kümmern sich nicht um ihren Nachwuchs. Die meisten wissen noch nicht einmal, wer der Vater ist.

Sie lassen das Baby einfach irgendwo sitzen oder drücken es dem erstbesten Bekannten in die Hand“, lautet seine Erfahrung.

8.000 Bettler leben unter Brücken

Was waren das noch für Zeiten, als in Rio „lediglich“ schelmische Straßenjungen an der Ampel Passanten um ein paar Cruzeiros anbettelten! Heute belagern ganze Familien die durchlöcherten Bürgersteige. Die Enkel des Elends, direkt auf dem Asphalt geboren, vermehren sich bedrohlich schnell und sind dabei, eine neue Generation von Ausgestoßenen und Rächern zu bilden.

Die „Belagerung“ von Rios Innenstadt hat in den vergangenen Jahren aufgrund der anhaltenden Rezession und Arbeitslosigkeit stark zugenommen. Nach Angaben der Stadtverwaltung hausen heute rund 8.000 Bettler und ihre Familien unter Brücken oder in Tunneleingängen.

Viele der Straßenbewohner besitzen in einem der Rio-Vororte einen miserablen Bretterverschlag. Doch um das Fahrgeld für den Bus zu sparen, schlagen sie während der Woche ihr Lager in der vornehmen Südzone der Stadt auf und fahren nur am Wochenende nach Hause.

Besonders beliebt als provisorische Unterkunft sind die U-Bahn- Schächte. Tagsüber trocknen die Frauen auf den Gittern die Wäsche, nachts rollt sich die ganze Familie über der warmen Luft zusammen. Die Aufgaben in der Welt des Elends sind streng nach Geschlechtern getrennt: während die Frauen auf Hab und Gut der Familie und „befreundeter“ Straßenhändler aufpassen, verdingen sich die Männer als Papiersammler, Parkwächter, Autowäscher oder Taschendiebe.

Auch Rosimar hat ein Zuhause. Mitarbeiter der Tagesstätte haben für sie unmittelbar neben der Barracke ihrer Mutter ein kleines Zimmer hochgezogen.

Doch von ihrer Mutter hat sich Rosimar schon vor vier Jahren losgesagt, und ihre kleinen Geschwister sind ihr egal. Einer der Brüder ist im Alter von zwölf Jahren gestorben, ihr Vater ist ebenfalls schon tot. Rosimar starrt ins Leere, am Sozialarbeiter vorbei: „Nach Hause gehe ich nicht“, sagt sie, und damit ist für sie die Diskussion abgeschlossen.

Die Kälte der 14jährigen erstickt jede Frage im Ansatz. Ihre Zukunftsaussichten sind gleich null, und sie weiß es. Wieso soll sie sich alphabetisieren lassen oder die Schulbank drücken, wenn sie sowieso kaum Chancen hat, jemals mehr als ein bis zwei Mindestlöhne (ein Mindestlohn = 100 DM) zu verdienen? Wenn sie mit einem unterernährten Baby im Schoß im Stadtzentrum die Hand aufhält, verdient sie wesentlich mehr. Und wenn ihr Freund ab und zu Erfolg beim Stehlen hat, reicht es sogar für Drogen und Kleider.

Die Existenz der Tagesstätte Sao Martinho hat sich unter den Straßenfamilien im Stadtzentrum von Rio schon herumgesprochen. Die Eltern wissen, daß ihre Kinder dort etwas zu essen bekommen. In der Hoffnung, auch etwas für sich selber abstauben zu können, stehen sie täglich um die Mittagszeit vor den eisernen Gittern der Tagesstätte Schlange. Doch Juca Ribeiro ist kategorisch: „Nur Minderjährige, die die Regeln des Hauses befolgen, werden hereingelassen. Wir sind kein Obdachlosenheim.“

Die Konzepte der Sreetworker sind überholt

Die zahlreichen Hilfsorganisationen für Straßenkinder haben sich auf die neue Situation noch nicht eingestellt. „Der Traum eines jeden Streetworkers“, so Juca Ribeiro, „ist es, die Kinder wieder zu ihren Eltern zurückzubringen.“ Doch gilt dieser Vorsatz auch, wenn die Eltern bereits auf der Straße wohnen?

Angesichts der zweiten Generation von Straßenkindern, die in Windeseile heranwächst, scheinen die alten Rezepte überholt. Nur der Bruch mit der Familie vermag die Kinder aus dem Teufelskreis aus Elend und Gewalt herauszureißen. „Die Eltern lassen das Kind nicht im Heim schlafen oder zur Schule gehen, weil sie es zum Betteln oder Diebstahl brauchen“, erklärt Fabio da Silva. Der siebenjährige Rafael, den er betreut, wurde in den Strudel der Armut hineingeboren. Bis zum Mittagessen tobt er sich mit Gleichgesinnten in der Tagesstätte aus. Doch nachmittags geht der Kleine, der zusammen mit seinen Eltern und zehn weiteren Familien an der U- Bahn-Station „Carioca“ wohnt, brav betteln. Seine beiden älteren Brüder haben der Familie bereits den Rücken zugekehrt: Sie gehören einer Bande von Straßenjungen in Copacabana an.

„Straßeneltern“ kontrollieren den Drogenhandel

Doch auch die Halbwüchsigen werden in die rigorose Hierarchie der Straßenbevölkerung hineingezwungen. Die sogenannten Straßeneltern, ob leiblich oder selbsternannt, kontrollieren Drogenhandel, Straßenverkauf und Bettelei auf dem Asphalt. Wer sich ihren Prinzipien widersetzt, verliert ihren „Schutz“ und wird zum Freiwild.

„Die Eltern verderben ihre Kinder. Wenn die Familie auf der Straße wohnt, ist es zu spät“, meint Fabio. Auch ihm ist das Träumen bereits vergangen. „Die Familien auf der Straße schränken unsere Arbeit ein“, räumt er ein. Die Betreuung von Straßenkindern dreht sich im Kreis.

Arbeitslosigkeit und Einkommenskonzentration treiben immer mehr Jugendliche in die Welt der Außenseiter auf dem Asphalt, die sich wiederum zunehmend zu einer Gesellschaft mit eigenen Wertmaßstäben entwickelt. Auf der Straße unterhalten nicht die Erwachsenen, sondern die Kinder die Familie. Reichlicher Nachwuchs ist somit eine Frage des Überlebens.

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