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Leben in der Zwischenzeit

Das Symbol von Berlin-Mitte ist die Schuttrutsche  ■ Von Michael Sontheimer

In unserer Straße, einer Seitenstraße der Friedrichstraße, ist kein Baum, kein einziger grüner Halm zu sehen; nichts als staubiger Stein. Nur aus einer verwitterten Mauer im Hinterhof, die eine alliierte Bombe in eine Außenmauer verwandelt hat und an der noch die Kacheln verschwundener Badezimmer hängen, sprießt eine Birke. In dem im Jahr 1870 erbauten Mietshaus speiste im Hochparterre einst Otto von Bismarck in einer feinen Weinstube, inzwischen ist kaum mehr Putz an der Fassade. In der einstigen Weinstube hatte die Stasi ein kleines Rechenzentrum installiert, seit bald drei Jahren steht sie nun leer.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite dräut eine düstere Burg. 1900 erbaut, diente sie bis 1945 der Deutschen Bank als Hauptsitz, später beherbergte sie das Ministerium des Inneren der DDR. Inzwischen verwalten Sachbearbeiter in nach Weststandard renovierten Büros die Stasi-Akten. Wir waren zunächst etwas irritiert, als im letzten Sommer im obersten Stock des Domizils der Gauck-Behörde auf einmal bis morgens um drei die Lichter brannten. Eine Nachfrage bei einem dort beschäftigten Bekannten ergab, daß sich Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz aus Köln einquartiert hatten. Diese Form permanenter Akteneinsicht sei zwar im entsprechenden Gesetz nicht vorgesehen, aber dafür ein schönes Beispiel für die Kontinuität krimineller Energie deutscher Agenten.

Die Wohnung, die wir vor anderthalb Jahren besetzt und inzwischen gemietet haben, diente der Stasi sieben Jahre als KW, als „konspirative Wohnung“. Die einzige kleine Spur, welche die sozialistischen Kundschafter hinterließen, war ein abgegriffenes Schwarzweißfoto, das eine ältere und zwei junge Frauen in ärmlicher Kleidung zeigt. „Das sind wir. Mama, meine Schwester und ich“, steht auf der Rückseite in Russisch, „Bernburg, 1.5. 1980“. Als wir die wasserleichenfarbenen Tapeten unserer Vornutzer vom MfS noch nicht überstrichen hatten, war die Tristesse niederschmetternd. „Wenn du hier betrunken in einer Novembernacht die Straße langgehst“, meinte ein Freund, „hast du nur noch einen Wunsch – dich zu erschießen.“

Bis vor kurzem existierten in unserem Block vier Geschäfte. Eine Konsum-Filiale, deren lethargische Verkäufer auf die arglose Frage, wo sich Salz finden ließe, mit einem stolzen „Ham wa nicht!“ antworteten, und mit stoischer Gelassenheit erklärten: „Süße Sahne kriegen wir seit dem Umbruch nicht mehr geliefert.“ Vor ein paar Wochen wurde der Konsum abgewickelt, schon eine Weile zuvor hatte es im Haus nebendran den „Club von Berlin“, respektive den traditionsreichen „Club der Kulturschaffenden“ erwischt. Vor dem Zeitungsladen steht seit einer Weile ein Schild: „Vorübergehend keine Zeitungen und Zeitschriften“. Die beiden Jungunternehmerinnen konnten den Grossisten nicht mehr bezahlen. Eine Fleischerei und eine Drogerie sind noch geblieben. Sie haben Samstag auch schon geschlossen.

Regierungsviertel sind naturgemäß ebenso öde und leblose Ensembles wie die Beamten, deren Arbeitsstätten sie beherbergen. Das künftige Machtzentrum Deutschlands ist darüber hinaus in einem einzigartig erbärmlichen Zustand. Karl Kraus hat verlangt, daß in Städten die Müllabfuhr, die Kanalisation und die Straßenbeleuchtung funktionieren müßten, „gemütlich“, befand Kraus, „bin ich selbst.“

In unserer Straße brennt keine einzige Laterne mehr. Als ein Freund einmal über ein riesiges rostiges Rohr stürzte, sich den Arm brach und Schadensersatz geltend machte, kamen alsbald zwei Arbeiter, welche zwei Lampen mit einem freischwingenden Kabel verbanden und in Gang setzten. Nach drei Wochen erloschen sie, seitdem ist es wieder stockdunkel.

Während Schöngeister aus dem Westen sich den Abriß des Palasts der Republik und die milliardenteure Wiedererrichtung des Schlosses zum vordringlichen Projekt für Berlin-Mitte erkoren haben, entspricht die Qualität der Infrastruktur im alten und neuen Regierungsviertel etwa der Hanois. Eine zarte Hoffnung auf modernes Großstadtleben nährt die Post. Bis zum Sommer brauchten Briefe aus Westdeutschland nach Berlin- Mitte sieben Tage länger als nach Westberlin. Inzwischen sind es nur noch drei. Das Hauptpostamt des künftigen Regierungsviertels in der Französischen Straße ist allerdings noch immer für Überraschungen gut. Der Versuch, eine Telefonkarte zu erwerben, scheitert an einer freundlich lächelnden Schalterdame. Sie habe auch schon mal gehört, daß es „so was“ geben solle, „aber fragen Sie doch bitte mal im Westen“.

Der Westen ist – zum Glück für unsere Logistik – nah. Tagsüber fällt er in Gestalt von Automobilen ein und verbarrikadiert die schmalen Straßen der Friedrichstadt. Sie gehören dann den mit Funktelefonen bewaffneten Schlips-Wessis und angelernten Business-Ossis in Minol-violetten Anzügen, den Immobilienhändlern, Rechtsanwälten oder Journalisten. Die Frauen, die zu DDR-Zeiten in den Ministerien und Verlagen arbeiteten, verschwinden dank zügiger Abwicklung unaufhaltsam aus dem Straßenbild. Touristen schleppen sich vom Brandenburger Tor zum einstigen Checkpoint Charlie. Russen und Nordkoreaner, Mitarbeiter der einstigen Botschaften, die derzeit nur „Außenstellen“ der Bonner Botschaften sind, versuchen, nicht aufzufallen.

Die Immobilienhändler spekulieren darauf, daß alsbald eine Berlin fremde Klasse nach Mitte strömen wird, die Bourgeoisie. Die Grundstückspreise an der Friedrichstraße liegen bei 20.000 Mark für den Quadratmeter. Schon gibt es dort mehr Bankfilialen als alles andere. Wo bis Anfang dieses Jahres der Betontorso des sozialistischen Luxuskaufhauses „Friedrichstadt-Passagen“ („Usbekischer Bahnhof“) stand, wird jetzt groß gebaut. Zur Abwechslung sind jetzt kapitalistische Luxuskaufhäuser geplant. Die hoffnungsvollen Investoren aus New York, Paris und Heidelberg lassen elegant gestaltete Gratisbroschüren mit dem Titel StadtMitte verteilen, in denen vorsichtig darauf hingewiesen wird, daß in den nächsten Jahren noch etliche Baustellen dazukämen, „bevor die Friedrichstraße wieder das liebenswerte und lebendige Viertel wird, in dem Sie gerne wohnen oder arbeiten“. Es würden auch Wohnungen gebaut, „allerdings sind dies keine Sozialwohnungen“. Teure Appartements und Penthouses sind geplant, ideal für Bankdirektoren und Aufsichtsratsvorsitzende oder ihre Mätressen, Waffenhändler, Ölscheichs und ähnliche Lichtgestalten menschlicher Gemeinwesen. Ein erster plutokratischer Vorposten ist das „Borchard“, ein Restaurant-Tempel mit ebenso schlechter wie teurer Nouvelle cuisine, Treffpunkt für Treuhand-Abzocker, überparfümierte Damen, Konzertbesucher aus dem Schauspielhaus und Westberliner Ex-Linke, die Berlin-Mitte ziemlich hip finden.

Noch sind die einstigen Ostbonzen deutlich in der Überzahl; die Ex-Professoren und Stasi-Generäle in den Hochhäusern entlang der Leipziger Straße, Nomenklatura-Blüten wie Schabowski oder Hager, die in der Luxus-Normplatten-Zeile an der Otto-Grotewohl- Straße wohnen. Die nach dem „SPD-Verräter“ benannte Straße heißt noch immer so, auch wenn sie die Berliner Zeitung nur noch verschämt „ehemalige Wilhelmstraße“ nennt. Diesbezüglich ist man konservativ in Mitte, auch der Versuch, die Wilhelm-Pieck- in Ernst-Lubitsch-Straße umzubenennen, fand nicht die Zustimmung des Bezirksparlaments. Die PDS wurde bei den Kommunalwahlen im Mai mit 35,8 Prozent die stärkste Fraktion im Bezirksparlament, die CDU hat mit 12,6 Prozent das Format einer aufstrebenden Splitterpartei, und die FDP kam auf ganze 3,0 Prozent.

Ein freundlicheres soziopolitisches Ambiente für die Regierung – wenn sie denn jemals wirklich kommen sollte, was den derzeitigen Bewohnern von Mitte nicht zu wünschen ist – wird Spekulation und Immobilienhandel schaffen. Die alten Bewohner, es leben rund 80.000 Menschen in Mitte, werden vertrieben. Zunächst aus dem Regierungsviertel, irgendwann auch aus dem Scheunenviertel hinter dem Alexanderplatz und aus den Normplatten. Obgleich dank verworrener Eigentumsverhältnisse viele Projekte noch stagnieren, mutiert Berlin-Mitte langsam zu einer einzigen gigantischen Baustelle. Das Symbol des zentralen Berliner Bezirks ist die Schuttrutsche, jene ineinandergestülpten Plastikröhren, durch die ganze Dächer Ziegel für Ziegel donnernd in die Tiefe fahren.

Berlin-Mitte, Regierungsviertel, das ist Leben in einer eigentümlichen Zwischenzeit, in einem Vakuum, das einzigartige Soziotope zuläßt. In einem Teil der nordkoreanischen Botschaft, vor der in Schaukästen Fotos vom heldenhaften und siegreichen Kampf des großen Führers Kim Il Sung ausgestellt sind, hat sich ein Frauen-Fitneß-Studio etabliert.

Schräg gegenüber findet sich der „Frisör“, ein nicht besonders legales, von jungen Künstlerinnen und Künstlern betriebenes Lokal, das nur am Freitag und Sonnabend geöffnet hat. Über der Bar hängt ein Foto von Inge Meysel, die in den fünfziger Jahren hier Kundin gewesen sein soll.

Die Künstler haben einen fünfjährigen Mietvertrag, dann werden die Alteigentümer ihr Grundstück rückübertragen bekommen haben. Noch läßt es sich im Frisör in trüben Oktobernächten trinken. Wenn ich dann durch die dunklen Straßen nach Hause gehe, auf der Hut, nicht in eine unbeleuchtete Baugrube zu stürzen oder in ein Schlagloch zu treten, vorbei an dem zur Verhinderung einer Besetzung zugemauerten Haus in der schon immer so heißenden Mauerstraße – gegenüber hat Heinrich von Kleist gewohnt –, erscheint mir die Warnung unseres Freundes vor Suizidneigungen nicht völlig aus der Luft gegriffen. Berlin, Mitte. Hier ist die Welt am Ende.

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