: Europa, verstrickt wider Willen
■ Ein Sammelband widerspiegelt die widersprüchliche Debatte
Der Sammelband „Krieg auf dem Balkan“ beginnt mit den Schüssen serbischer Heckenschützen am 5.April 1992 auf die Friedensdemonstration in Sarajevo. Mit der Erinnerung an diese Bilder trifft der Herausgeber Erich Rathfelder den terroristischen Kern dieses Krieges. In nuce enthält der 5.April auch das klare historische Urteil darüber, wo die Kräfte des Terrors und wo die Kräfte des Friedens sich befanden — und was zu tun gewesen wäre, um die Kräfte des Friedens, wenn nötig von außen und militärisch, zu stützen. So klar die Ereignisse dieses Tages auch waren, so dissonant und widersprüchlich die europäischen Debatten. Was also könnte es angesichts des Dissenses in Westeuropa Beruhigenderes geben als die „eine Antwort“ auf alle Fragen, die „einzig realistische Sicht der Dinge“, wie sie uns der Slawist Wolf Oschlies präsentiert? Sie lautet: „Zurück zum ,Jugoslawismus‘, zum jugoslawischen Markt — vorwärts zu einer jugoslawischen Konföderation“. Ob Illyrische Bewegung des 19.Jahrhunderts, ob Titos jugoslawische „Vision“: die „traumschöne Perspektive“ (Oschlies) der Synthese der Völker wird zur Folie historischer Beurteilung, nach der Geschichte in Gut und Böse geschieden wird. Begeisterung, Gefühl und Ideal werden, ganz deutsch, zur Grundlage von Geschichtsbetrachtung.
Ein Volk: die es anders sahen und sehen, werden diffamiert. Doch der Unabhängigkeitswille etwa der Slowenen und Litauer von der Belgrader beziehungsweise Moskauer Zentrale ist nicht allein den sprachlich-kulturellen Unterschieden geschuldet; es ist Wille dieser Völker auch aufgrund einer langjährigen Unterdrückungsgeschichte als Versuchsobjekte. Oschlies' Aufsatz hinterläßt den Eindruck, solchen Willen nicht anzuerkennen. Eine Nationalwerdung, die er bei den Serben begeistert feiert, diffamiert er für die kroatische Seite als „Stammespartikularismus“.
Der Beitrag von Erich Rathfelder bietet eine realistische Darstellung vom Ausmaß des Terrorsystems, der „ethnischen Säuberungen“, der Vergewaltigungen, die Serben in Bosnien-Herzegowina gegen Moslems durchführen. Entgegen der Behauptung von gleichermaßen Menschenrechtsverletzungen auf allen Seiten, wie sie auch Oschlies vertritt, zeigt Rathfelder, wie der heutige serbische Nationalismus auf die Zerstörung der geschichtlichen und kulturellen Wurzeln der Moslems und Kroaten gerichtet ist. Daß die bosnischen Muslime mit ihrer Tradition toleranten, multiethnischen Zusammenlebens zwischen die imperialistischen Absichten des Serben Milošević und des Kroaten Tudjman geraten, ist, wie Rathfelder zeigt, eine Tragödie. Entgegen dem Gerede, die Ursache der Eskalation des Konflikts sei seine Internationalisierung, führt Rathfelder ein wichtiges Argument an: Die Verpflichtung, die staatliche Existenz Bosnien-Herzegowinas mit seiner Anerkennung auch zu sichern, habe die internationale Gemeinschaft nicht eingehalten. Mit der Anerkennung wurde Bosnien, abgesehen von den humanitären Hilfsmaßnahmen, sich selbst überlassen; die Europäer nahmen ihre Verantwortung nicht wahr.
Der explizite Beitrag zur Frage der militärischen Intervention des Friedensforschers Dieter S.Lutz mag sich der Rathfelderschen Einsicht in die Unteilbarkeit der Menschenrechte nicht stellen. Seine Grundsatzerwägung, daß ein Einsatz bewaffneter Kräfte zur Wahrung von Menschenrechten ein Widerspruch in sich sei, offenbart eine engelhafte Logik, nicht von dieser Welt. Für diese aber gilt das genaue Gegenteil: Die Überlebenden von Auschwitz und Buchenwald hätten angesichts ihrer Rettung durch die Alliierten gerade die Lutzsche Logik als contradictio in ipso qualifiziert. Viele Insassen der KZs in Bosnien von heute haben die Logik westlicher Nicht-Inverventionisten bereits mit ihrem Leben bezahlt. „So hart und grausam es klingen mag...“ — Lutz spürt die Zumutung seiner Logik.
Spätestens bei einer Ausweitung des Krieges auf den Kosovo, so jedenfalls der Beitrag von Hardten/Stanisavljevic, vielleicht zu spät, würde Europa mit der Einsicht konfrontiert: „Die Vorstellung, nicht verstrickt werden zu können, ist eine Illusion.“ Johannes Vollmer
Krieg auf dem Balkan, Die europäische Herausforderung, Hg.: Erich Rathfelder, rororo aktuell, 9,90 DM
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