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Fremdes positiv erleben

■ Interesse an sozialpsychologischen Thesen

„Die soziale Sicherheit ist eine Grundlage zur Begegnung mit dem Fremden. Mir scheint das große Problem zu sein, daß die den Jugendlichen in der früheren DDR nicht gegeben wird“, sagt Gerhard Vinnai, Professor für analytische Sozialpsychologie an der Universität Bremen. Dies ist eine der vielen Thesen, die Vinnai mit seiner Analyse zur zunehmenden Fremdenfeindlichkeit herausgearbeitet hat. „Das In-und Ausland — zur Sozialpsychologie der Fremdenfeindlichkeit“, so hieß Vinnais Vortrag in der Villa Ichon. Der Raum reichte für die vielen ZuhörerInnen längst nicht aus.

Vinnai arbeitet unter anderem mit Freuds These von der Verdrängung. „Es gibt Teile unserer Persönlichkeit, die uns nicht bewußt sind. Umso belasteter Menschen sind, desto mehr steigt die Tendenz, sich nicht mit der eigenen Angst auseinanderzusetzen“, stellt Vinnai fest. „Und so projizieren wir unsere innere Fremdheit, oder das, was uns an uns selber Angst macht, auf die Ausländer.“ Aufklärung oder Polizei-Einsätze würden da wenig nützen.

Eine weitere These Vinnais: Menschen könnten dem Fremden nur dann ohne Aggressivität begegnen, wenn „eine gelungene Ablösung von der Familie stattgefunden hat.“

Daß Menschen sich nicht von ihrer Familie ablösen können, hänge nicht nur mit „einer schlimmen Kindheit“ zusammen, sondern auch damit, „wie der Mensch heute lebt“, erklärt Vinnai. Die Menschen hätten zunehmend das Gefühl, unübersichtlichen Strukturen ausgeliefert zu sein. Die Folge ist Infantilität und die Suche nach Familien oder der familienähnlichen Struktur einer nationalen Gemeinschaft.

In der Ablehnung des Fremden bzw. der Unfähigkeit, dem Fremden positiv und neugierig zu begegnen, liege aber auch das „Problem mit dem anderen Geschlecht“ begraben. Entweder durch schlichte Ablehnung der weiblichen Anteile oder durch den Ausbruch von Aggressivität zur Zeit der sexuellen Identitätsfindung während der Pubertät. „Fremdenfeindlichkeit hat etwas mit Geschlechtlichkeit zu tun. Das Fremde positiv zu erleben, hat auch einen erotischen Reiz“, sagt Vinnai.

Die Fremdenfeindlichkeit hat parallel zur Wiedervereinigung zugenommen. Die Deutschen aus Ost und West sind sich noch fremd. Als Thema wird dies jedoch tabuisiert. Vinnai zu den Folgen: „Die Spannung und Wut wird auf die Ausländer verschoben.“ Der Professor für analytische Sozialpsychologie sieht in einer neuen sozialen Bewegung eine Möglichkeit zur Veränderung. Die irrationalen Sehnsüchte nach Veränderung müßten eine reale Umsetzung erfahren. „Wir brauchen demokratische Strukturen, in denen man sich auch zu Hause fühlen kann.“ vivA

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