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„Keine Sondermülldeponie der Geschichte“

■ Neues Buch über den mißglückten Versuch der Entnazifizierung in Bremen

Geht man nach der Statistik der Entnazifizierung, gab es in Bremen kaum Nazis im Nationalsozialismus. Rund 16.500 BremerInnen wurden in den Jahren 1945 bis 1950 überprüft. Die meisten wurden dabei in niedrige Belastungskategorien eingestuft - den 89 Prozent sogenannter „Mitläufer“ standen 1 Prozent „Hauptschuldige“ und „Belastete“ gegenüber — das waren genau 168 Personen.

„Eine erfolgreiche politische Säuberung kann es nicht geben“, davon ist Wiltrud Drechsel, Herausgeberin des im Verlag „Edition Temmen“ neu erschienenen Buches „Denazification — Zur Entnazifizierung in Bremen“ überzeugt. Die Entnazifizierung ist oft als Farce bezeichnet worden; „Denazification“, eine Zusammenstellung der vielfältigen Facetten dieses politischen Säuberungsprozesses im Bremen der Nachkriegszeit, zeigt: Sie ist auch hier mißlungen. Wiltrud Drechsel: „Der Versuch, einen Schlußstrich unter die Geschichte zu ziehen, muß scheitern. Für die Geschichte gibt es keine Sondermülldeponie. Wiederholungen der Vergangenheit können nur durch Erinnerungsarbeit verhindert werden.“

Die Erinnerung an den Prozeß der Entnazifizierung, den nach dem Ende des Nazi-Regimes per Gesetz alle erwachsenen bremischen BürgerInnen durchlaufen mußten, ist heute nahezu ausgelöscht. Der sich breitmachende Neonazismus (“ein Zeichen für die nicht bewältigte Vergangenheit“) und die neuerlichen politischen Säuberungsprozesse (Stichwort Stasi) waren für die HerausgeberInnen Wiltrud Drechsel und Andreas Röpcke Anlaß genug, die Geschichte der Entnazifizierung in Bremen neu aufzurollen. Heraus kam ein 200 Seiten starkes Buch, das in der Temmen-Reihe „Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens“ erschienen ist.

Senator für politische Befreiung

Die Beiträge in dem „wissenschaftlichen, aber lesbaren“ Buch setzen sich aus verschiedenen Teilen zusammen: Die Verwaltungsseite der Entnazifizierung als bürokratischer Vorgang wird ebenso beleuchtet wie die politische Analyse — unter anderem von Leuten, die an diesem Prozeß beteiligt waren. Zu Wort kommt der Leiter der Entnazifizierungsabteilung der amerikanischen Militärregierung, Joseph F. Napoli, der die „Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ in Bremen durchführte. Enthalten ist auch der Abschlußbericht des anschließend eigens für die Entnazifizierung zuständigen „Senators für politische Befreiung“, Alexander Lifschütz, einem von den Nazis schon 1933 ausgebürgerten Bremer Juristen. Szenische Lesungen, die die moralische Seite darstellen, Thesen zur aktuellen Seite der Entnazifizierung und deren gesetzliche Grundlagen runden das Buch ab.

„Nach Lifschütz' eigener Einschätzung ist es in Bremen relativ milde zugegangen“, sagt Wiltrud Drechsel. Die Vorgänge in der Bremischen Evangelischen Kirche, wo die wenigen belasteten Pastoren meist nach kurzer Zeit wieder in Amt und Würden waren, sind ebenso nachzulesen wie die Bitte des damaligen Senators Aevermann, belastete Lehrer wieder einzustellen, da sonst das Schulsystem zusammenbräche. Am 31. März 1950 wurde in Bremen übrigens der geschichtliche Schlußstrich gezogen — da verabschiedete der Bremer Senat das „Gesetz zum Abschluß der politischen Befreiung“. Susanne Kaiser

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