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Tägliche Feier zur guten Verkehrshoffnung

Serie: Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (zweiter Teil)/ Nicht die fehlende Planung beim Straßenbau, sondern beim Schienenverkehr macht die Verkehrskatastrophe unausweichlich  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

Berlin ist gegenwärtig eine Stadt mit 4 Millionen Einwohnern, die in Mitteleuropa eine einmalige Chance hat, nämlich in das Umland hinauszuwachsen. Nirgendwo sonst steht soviel günstiger Baugrund zur Verfügung wie in Berlin. Nirgendwo sonst verfügt wahrscheinlich auch der Staat über soviel Möglichkeiten, Baugrund gesichert zur Verfügung zu stellen und planerisch einzusetzen. Dabei rede ich gar nicht von dem Innenstadtbereich, wo im Vergleich zu den übrigen großen Weltmetropolen Tokio, London, New York und Paris der Baugrund extrem günstig ist. Die Japaner können hier Grundstücke kaufen wie sonst nirgendwo auf der Welt, und sie versprechen sich traumhafte Gewinne aus ihren spekulativen Vermietungen. Im Gürtel innerhalb des Autobahnrings steht noch viel mehr und noch viel billigerer Baugrund für Industrieansiedlungen und Dienstleistungen zur Verfügung. Von außen drängt auf die Stadt aus Osteuropa, aber auch aus allen anderen Teilen des vereinten Europas eine große Menge an Menschen, die in dieser wachsenden Stadt Wohnraum und Wohlstand suchen wollen und suchen werden. Es ist abzusehen, daß Berlin in den nächsten 20 Jahren mindestens auf 8 Millionen, wenn nicht auf 10 Millionen Einwohner wachsen wird. Das ist die Stadtplanungsaufgabe und damit die Verkehrsplanungsaufgabe, um die es geht.

Dennoch wird aber so getan, als ob es darum ginge, die Verkehrsprobleme der 4 Millionen Einwohner zu lösen, ja, man kann noch weiter gehen, es wird so getan, als ob es um die Verkehrsprobleme der 2 Millionen Westberliner ginge. Der Streit um Busspuren ist eigentlich lächerlich im Angesicht der Probleme, die auf diese Stadt zukommen. 10 Millionen Menschen werden innerhalb der nächsten 20 Jahre eine Massenverkehrsnachfrage haben, die mit den Verkehrsmitteln, die wir jetzt haben, nicht zu lösen ist. Bisher ist im Jahre 3 nach der Wende kein Meter Straßenbahn neu gebaut worden, ja es gibt immer noch keine Planung hierfür, es ist kein Meter U-Bahn gebaut worden und man hat den Eindruck, daß bei der S- Bahn die gesamte Kapazität in die Außenverkleidung der schnuckeligen Bahnhöfe der Jahrhundertwende gesteckt wird. Es ist noch nicht einmal Bilanz gezogen worden. Es gibt in Berlin mehrere U- Bahnprofile, ein S-Bahnsystem, das in das 19. Jahrhundert zurückreicht, mehrere Straßenbahnsysteme, die teilweise auch im 19.Jahrhundert angesiedelt sind, nostalgisch anzusehen, aber unbrauchbar, Straßenbahnwaggons des Tatratyps, die aus dem realen Sozialismus stammen, Doppeldeckeromnibusse verschiedenen Typs, die zwar auch hübsch anzusehen sind, aber eigentlich nur dazu dienen, die Busbenutzer durcheinanderzuschaukeln, Doppelgelenkbusse, die nicht weniger funktionsunfähig sind, und verschiedene kleine Zubringersysteme, die alle mit modernen Verkehrssystemen nichts zu tun haben. Berlin ist sozusagen ein höchst lebendiges, großes Museum für Verkehr und Technik. Nirgendwo eine zukunftsweisende Lösung, nirgendwo Planung, Visionen, Modernität. Man hat den Eindruck, daß Verkehrsplanung – konkret gesprochen – nur daraus besteht, wie das sogenannte Regierungsviertel durch einen Straßentunnel unterfahren werden kann. Hinzu kommt, daß die regionale Bahnerschließung vom Gleiskörper her, vom Zustand der Bahnhöfe, vom Wagenpark und von der Logistik her aus der Reichsbahnzeit stammt und einen entsprechenden Zustand hat. Es gibt weder einen noch mehrere große Zentralbahnhöfe, um den Verkehr einer künftigen Stadt mit zehn Millionen Einwohnern zu bewältigen, sondern lediglich lächerlich anmutende Pläne für die Einfädelung des europäischen Schnellverkehrs in das Stadtsystem. Auch hier ein herrliches Museum für Eisenbahnfans, nichts für Umsteiger, die mit modernen Schienensystemen mobil bleiben wollen.

Und was eigentlich bei dem Ganzen am schlimmsten ist: In der Zwischenzeit wird im sogenannten Speckgürtel der Stadt die dritte große Randwanderung der Industrie geplant und vollendet. Immer mehr Industriebetriebe wandern in das Umland ab, weil die Grundstücke noch zu relativ niedrigen Preisen zu bekommen sind und weil sie ihre innerstädtischen Grundstücke wiederum an die Dienstleistungsspekulanten verkaufen können. Mit dieser dritten Randwanderung werden aber erst die wirklichen Verkehrsprobleme der Stadt von übermorgen jenseits aller Schienenanbindungen geschaffen. An lausig ausgebauten Bundes- und Landstraßen dritter, vierter und fünfter Ordnung, an schlecht ausgebauten Autobahnen wird die Trennung von Arbeit und Wohnen ins schier Unermeßliche überspannt. Entgegen allen Ratschlägen, Wohnen und Arbeiten miteinander zu verbinden, wird auch an dieser Stelle das Gegenteil gemacht, ja, die Vorstellung, Industrieansiedlungen längs von Bahntrassen zu planen, wird geradezu konterkariert. Und so treffen sich dann die Arbeitskräfte aus dem ehemaligen Westen und den Großsiedlungen des ehemaligen Ostens alle am Straßenengpaß Sachsendamm zur allabendlichen und allmorgendlichen Feier zur guten Verkehrshoffung.

Die vorprogrammierte Verkehrskatastrophe wird aber nicht durch die fehlenden Planungen im Straßen-, sondern im Schienenbereich erzeugt und ist unausweichlich. Die Lösung des Problems hätte darin bestanden, von Anfang an schnell, zügig und konsequent in der Schiene zu planen und hierfür auch ein Beschleunigungsgesetz zu erlassen, nicht jedoch für die Straßenplanung. Jeder Berliner muß sich darüber im klaren sein, daß er demnächst täglich einen wesentlichen Teil seiner Freizeit, nämlich 3 bis 4 Stunden im Stau oder in der Warteschleife im öffentlichen Nahverkehr verbringen muß. Die Folgen hiervon sind wirtschaftliche Nachteile und eine immer neurotischer werdende Bevölkerung, die über eine große Zahl von Krankheiten klagen wird: Schlafstörungen, Konzentrationsschwächen, Atembeschwerden, psychische Defekte vielfältiger Art, Allergien, Wachstumsprobleme für die Kinder, Lernhemmungen und vieles, vieles andere.

Absurd, aber gleichzeitig belustigend ist es allerdings, daß die mangelnde Planung im verkehrlichen Bereich von vielen Politikern durch vielfältige Aktivitäten im Hochbaubereich nach dem Motto „Brot und Spiele“ kompensiert wird. Da eilt ein Senator an den Pariser Platz und weiht eine Baustellenwand einer französischen Malerin ein, anstatt sich um die Stadtplanung zu kümmern. Der andere haut als Bausenator permanent auf irgendwelche Grundsteine für irgendwelche Großinvestitionen, ohne sagen zu können, wie denn die Leute diese Großinvestitionen erreichen können. Und alle zusammen beteuern permanent, daß sie nicht miteinander reden, weil der, der zuständig ist, nämlich der Verkehrssenator, von den ganzen Problemen sowieso nichts versteht.

Und auch, wenn Sie mich für einen nörgelnden Querulanten halten, ich rufe in Erinnerung, was Hegemann 1930 zum steinernen Berlin gesagt hat: „Was hätte aus Berlin werden können, wenn es 1858–1862 von einem Polizeipräsidenten nicht so planerisch versaut worden wäre.“ Heute können wir Parallelen feststellen. Städteplanung ist heute Verkehrsplanung, und wir werden dereinst in 30 oder 40 Jahren in einer geschichtlichen Rückbetrachtung sagen, was hätte aus Berlin werden können, wenn die Verkehrsplanung in den neunziger Jahren nach der Wende nicht so jämmerlich versagt hätte und wenn es eine wirkliche Konzentration auf die wesentlichen Aufgaben der Stadtplanung gegeben hätte.

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg ist Mathematiker, Architekt, Stadt- und Verkehrsplaner sowie Autor mehrerer Bücher.

Die nächste Folge der Serie erscheint in einer Woche.

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