: Eine halbe Million Menschen gegen Ausländerhaß
■ Auf zwei Demonstrationszügen zogen nahezu eine halbe Million Menschen zum Lustgarten/ Die Rede von Bundespräsident Weizsäcker wurde durch Pfiffe und Stein- und Eierwürfe unterbrochen
Als der Krawall vor dem Alten Museum am Lustgarten begann, waren von den dreihunderttausend Menschen mindestens ein Drittel der Demonstranten aus Ost und West noch gar nicht am Platz angekommen. Die ersten Pfiffe gellten, als die Parlamentspräsidentin Hanna-Renate Laurien das Mikrofon ergriff, um die Verlesung des Briefes der mutigen Quedlingburgerin anzukündigen, die sich schützend vor ein Asylbewerberheim gestellt hatte. Die Krawallmacher dicht am Rednerpult begriffen offensichtlich nicht, daß der Brief dieser Frau kein bequemes Dokument für die Bonner Politiker ist. Sie übten sich schon im Stören ein.
Als Bundespräsident Weizsäcker seine Rede beginnen wollte, ertönte ein ohrenbetäubender Lärm. Gleichzeitig flogen Eier, Farbbeutel und Steine auf die Bühne. Auch der Ton fiel aus. Parlamentspräsidentin Laurien teilte später mit, „zivil gekleidete Gewalttäter“ hätten die Absperrung zur Bühne überwunden und die Stromkabel für die Lautsprecher durchgeschnitten. Einsatztruppen der Polizei stürmten zu den mehreren hundert Störern vor und versuchten sie abzudrängen, Techniker des SFB bemühten sich, Notleitungen zu aktivieren, die ersten Sirenen der Mannschaftswagen waren zu hören, ein Krankenwagen schob sich durch die Menge.
Weizsäcker begann dennoch seine Rede, abgekürzt und vom ursprünglichen Konzept abweichend. Der Bundespräsident wurde während der Rede von einer Phalanx von schilderbewehrten Polizisten geschützt; Regenschirme sollten Eierwürfe abhalten. Er ließ sich dazu hinreißen, Links- und Rechtsextremisten miteinander zu vergleichen und schaffte es erst kurz vor Schluß, die Notwendigkeit von Einwanderungsrichtlinien zu betonen.
Während Weizsäcker sprach, versuchten mehrere hundert Störer immer wieder lautstark, ihn zu übertönen. Friedliche Demonstranten gerieten zwischen Polizei und Randalierer und versuchten tränenüberströmt, Frieden zu stiften.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, ergriff nach der Rede des Bundespräsidenten spontan das Wort. Hocherregt sagte er mit brüchiger Stimme: „Ich schäme mich für das, was hier passiert ist. Wir sind nicht im Jahr 1938, sondern im Jahr 1992.“ Die große Masse sei friedfertig, die Mehrheit habe es an diesem Tage gezeigt. Und für diese Sätze erhielt Ignatz Bubis einen nicht enden wollenden Beifall der mehreren hunderttausend.
Im Tumult vor der Tribüne ging auch der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel zu Boden. Er versuchte danach, beruhigend auf die aufgebrachte Menge einzuwirken. Auch der Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, Martin Kruse, sowie die Grünen-Abgeordnete Antje Vollmer und Richard Schröder, ehemaliger SPD- Fraktionsvorsitzender in der DDR-Volkskammer, hatten sich vor der Tribüne postiert, um so ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen.
Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen rief über das Mikrofon, man wolle deutlich machen, daß Berlin eine freiheitliche, demokratische Stadt sei. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen, äußerte sich erschüttert über die Ausschreitungen am Ende der Demonstration. „Ich hatte mir sehr gewünscht, daß hier die Menschen friedlich für die Menschenwürde eintreten“, sagte sie.
Der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff sagte, trotz der Ausschreitungen sei die Demonstration „kein Fehlschlag“ gewesen. Trotz aller Störungen und unschöner Bilder habe die Demonstration dennoch ihren Sinn gehabt, sagte er.
Joachim Gauck erklärte gegenüber dem SFB, es mache ihn traurig, daß durch den Terror einer Minderheit, den Terror durch Lärm, das Gespräch der Demonstranten untereinander verhindert worden sei. „Diese Veranstaltung wurde durch Intoleranz und Argumentationsunfähigkeit behindert. Die vielen Tausenden von Menschen, die weiter hinten standen, haben weniger Aufmerksamkeit erhalten als die paar Tausend aus der Berliner Szene, und das macht mich traurig.“ Der Berliner SPD- Bundestagsabgeordnete Wolfgang Thierse, der während der Vorfälle ebenfalls ganz vorne stand, war ebenfalls empört. Froh sei er, daß so viele gekommen seien. Er wertete dies als Beleg dafür, daß die Deutschen wüßten, daß die Gefahr für die Demokratie rechts stehe. „Ich dachte, wir seien heute hierhergekommen, um uns wechselweise zu zeigen, daß wir Deutschen entschlossen sind, unsere Demokratie dadurch zu verteidigen, daß wir Menschlichkeit verteidigen, um zu zeigen, daß wir die Mehrheit sind. Jetzt erlebte ich, daß eine Minderheit die Mehrheit zu majorisieren droht, sich ins Licht der Medien setzt.“ Er finde es traurig, daß 2.000 Leute es schafften, dieses Anliegen mit Eiern und Trillerpfeifen zu beeinträchtigen. „Diese 2.000 Leute geben den Rechtsradikalen das Futter für neue Angriffe“, beklagte Thierse. Er vertrat die Ansicht, man müsse die „schweigende Mehrheit der Anständigen“ zu Wort kommen lassen gegen die, „die ganz laut schreien, egal ob sie sich rechts oder links nennen, denn die Begriffe stimmen nicht mehr.“ Dem widersprach der Münchner Historiker Michael Wolfsohn: „Wir müssen die politische Auseinandersetzung zurück in gewählte demokratische Institutionen bringen. Das ist eine solche Katastrophe, was wir heute erlebt haben, daß wir nicht zulassen dürfen, daß sich ein solches Fiasko noch einmal wiederholt. Mit diesen Leuten können wir uns nicht unterhalten, die müssen die Macht des Staates spüren.“ aku/kd/dpa/afp/ADN/taz
Siehe auch die Seiten 1 und 3
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