: Lear, König von Jugoslawien
Shakespeare in Slowenien ■ Von Gerhard Preußer
Ljubljana im Oktober des Jahres eins nach der Unabhängigkeit Sloweniens: ein trüber, nasser Herbst, geschäftige Aktivität auf den Straßen, modische Auslagen in den Boutiquen der Altstadt, Alkoholiker in der Einkaufspassage, die Cafés voll junger Leute: sichere, etwas triste Normalität.
Daß dies hier einmal Jugoslawien war, daß 150 Kilometer von hier in Nordbosnien Krieg geführt wird, scheint vergessen. Die Auseinandersetzungen mit der serbisch-jugoslawischen Bundesarmee, die auf die Unabhängigkeitserklärung folgten, liegen schon so lange zurück, daß sie zum heroischen „Unabhängigkeitskrieg“ verkärt werden können. Nur ein Toter auf slowenischer Seite: das war ein guter Krieg. Der schlimme Krieg ist ein anderer, der im Süden.
Die Unabhängigkeit stellt niemand in Frage: es mußte sein. In allen Gesprächen wird betont: Wir Slowenen waren schon immer anders. Peter Handkes Polemik gegen die Unabhängigkeit in seinem Aufsatz „Abschied des Träumers vom neunten Land“ ist hier wohlbekannt und wird als Nostalgie eines literarischen Träumers abgetan. Dennoch hört man überall die von Handke kritisierten Argumente: Wir Slowenen sind harte Arbeiter, die Serben sind faul. Wir gehörten schon zum Heiligen Römischen Reich, wird sind Mitteleuropäer, die Serben sind Osteuropäer. Wer ökonomisch denkt, weiß natürlich, daß die Behauptung der Ausbeutung Sloweniens durch Serbien nicht stimmen kann: der arme Landesteil kann den reichen nicht ausbeuten. Doch die These von der Andersartigkeit der Slowenen und ihrer Überlegenheit bleibt erhalten. Diese Legitimationsideologie läßt sich nicht erschüttern.
Mitja Rotovnik, der Direktor des großen Kultur- und Kongreßzentrums „Cankarjev Dom“ in Ljubljana, hört das Wort „Nationalismus“ nicht gerne. Er spricht statt dessen nur von „Freiheit“ und „Unabhängigkeit“. Und tatsächlich ist die slowenische Ideologie ein Nationalismus der Bescheidenheit. Ein Volk von zwei Millionen kann sich nicht zum Menschheitsbeglücker aufspielen. Es geht mehr um eine neue Zugehörigkeit: nicht mehr Jugoslawien ist die größte Einheit, auf die man sich bezieht, sondern Mitteleuropa. „Niemand will es wahrhaben, daß Europa in Zukunft aus zwei- bis dreimal mehr Staaten als früher bestehen wird“, sagt Mitja Rotovnik. „Aber es ist wichtig, daß die europäischen Politiker das zur Kenntnis nehmen. Denn das wird die Zukunft Europas sein: viele kleine Nationen, die anerkannt werden wollen.“ Und er sieht Slowenien durchaus in einer Reihe mit den regionalen Unabhängigkeitsbewegungen in Westeuropa: Katalonien, das Baskenland, Korsika, das sind die Brüder Sloweniens.
Natürlich sieht man auch die Verluste: die Märkte für slowenische Produkte in Jugoslawien sind weggebrochen, der Aufbau einer eigenen Armee, einer eigenen Außenpolitik verschlingt Geld. Aber angesichts des relativen Wohlstandes wiegen diese Nachteile geringer als die optimistische Perspektive eines selbständigen Slowenien als gleichberechtigte Nation des neuentdeckten Weltteils, den man Mitteleuropa nennt.
Dusan Jovanovic, Theaterautor und Regisseur, einer der renommiertesten Theaterleute im alten Jugoslawien, versteht sich heute als Slowene, als Autor in der Tradition der slowenischen Literatur. Ihm kommt kein Wort der Distanzierung vom neuen Staat über die Lippen, dennoch spürt man bei ihm, daß der slowenische Neuanfang auch mit Trauer verbunden ist. „Das Theater hat einen Resonanzraum verloren“, sagt er. Jugoslawien war ein großer Staat, der Klang der Kultur war voller als in einem Land mit der Einwohnerzahl Münchens. Die Integration Sloweniens in das Mittelmeerland Jugoslawien habe auch den Nationalcharakter des verschlossenen, introvertierten Bergvolkes aufgeweicht, weltläufiger gemacht. Jovanovics Projekt einer englischsprachigen, übernationalen Theaterzeitschrift „Euromaske“ war schon vor der Unabhängigkeit ein Signal für die Orientierung nach Mitteleuropa. Ironischerweise scheiterte sie bereits nach drei Nummern an der Auflösung Jugoslawiens.
Jovanovic, schon biographisch ein Intellektueller internationalen Zuschnitts, seine Mutter war eine Deutsche, sein Vater Serbe, seine Großmutter Griechin, sieht zwar die Kraft des nationalen Neuanfangs, die Dynamik einer neuen Entwicklung, aber mit der Verengung des Horizonts kann er sich nicht abfinden. Es gebe heute zwar viele rückwärtsgewandte Bewegungen in Slowenien, vor allem klerikal-nationalistische, doch auch einen neuen, liberalen Pioniergeist. „Es ist wie nach einem Erdbeben, es war ein Lebensende und ein Neuanfang. Man muß die Toten betrauern, aber man muß wieder neu aufbauen.“
Nationalismus und Mitteleuropaideologie hält Jovanovic für Krücken von Menschen, deren Fähigkeit zum Glauben an eine Utopie erschöpft ist. „Wenn sie nicht mehr vertröstet werden können auf eine bessere Zukunft, auf die Idee eines demokratischen, multinationalen Sozialismus, bleibt ihnen nur noch die Identifikation mit der Nation, um ihre Würde zu bewahren.“ Die Abendlandsrhetorik ist für ihn nur der Hilferuf eines orientierungslos gewordenen Volkes: „Hallo, hier ist wer, wir sind genauso wie ihr!“
Das Flüchtlingsproblem ist die einzige Verbindung Sloweniens mit dem Krieg in Bosnien. 70.000 hat es aufgenommen. In dem Land, das sich gerade von seinen südlichen Nachbarn abgrenzt, wächst folglich die Intoleranz. So gerät man in die unangenehme Lage, auf überraschend großes Verständnis für die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland zu stoßen. Bosnien läßt Jovanovic wie alle Gesprächspartner nicht als Argument gegen eine Aufsplitterung Europas in Kleinstaaten gelten. „Bosnien ist ein Sonderfall, dort hat schon der Erste Weltkrieg begonnen.“ Die europäischen Politiker hätten Fehler gemacht: die Anerkennung der Unabhängigkeit Bosniens sei ein Fehler gewesen, ihre Unterstützung des Kampfes gegen Serbien sei zu gering, aus Angst vor einem islamischen Staat in Europa. Das Resultat sieht Jovanovic mit illusionslosem Pessimismus: „Kroaten, Moslems und Serben werden nicht mehr zusammenleben können. Erst wenn alle tot sind, wird ein Fortinbras kommen können, die Leichen einsammeln und sagen: laßt uns neu beginnen.“
Ein Thema der slowenischen Literatur, des Films oder des Theaters sei der Bosnische Krieg jedoch nicht, behauptet Jovanovic. Doch abends ist im ausverkauften großen Theater des „Cankarjev Dom“ zu sehen, wie er sich selbst widerlegt. Seit mehreren Wochen läuft dort Jovanovics Inszenierung von Shakespeares „King Lear“ vor jeweils 1.400 Zuschauern: ein Lear des jugoslawischen Bürgerkriegs.
Im Hintergrund der riesigen offenen Bühne pulsiert eine Gruppe schwarz-rot gekleideter Tänzer. Sie jagen auseinander, stampfen mit den Fersen den Boden, ein Geräusch wie das Geratter von Maschinengewehren. Aus dem Lautsprecher heulen Synthesizerklänge wie von überfliegenden Bomberstaffeln. Boten rasen mit erlöschenden Fackeln im Zickzack über die Bühne: Es ist Krieg in Lears Albion, Bürgerkrieg.
In dieses dunkle Chaos hinein stürzt Lear (Radka Polic) auf die Bühne und verkündet seinen Beschluß, zurückzutreten und das Land zu teilen. Dieser Lear ist kein übermütiger, jähzorniger Greis, sondern ein Politiker in verzweifelter Lage. Seine Töchter sind in schimmernde Metallkleider gesperrt wie in goldene Gefängnisse. Gegen diese Erstarrung wird eine nostalgische Rückblende gesetzt: Lears Töchter kommen als Kinder auf die Bühne, und Vater Lear spielt unter den Augen von Mutter, Amme und Gouvernante mit den Kleinen. Doch das Familienglück ist längst vorbei. Cordelia sagt ihr ehrliches dünnes „Nic“, und Lear verkündet im Zorn die Aufspaltung des Staates.
Der slowenische Lear ist kein einsamer Alter, er ist der Protagonist einer Truppe Heimatloser. Anfangs, am Hof von Albany, ist es eine bunte Schar von Hofleuten mit Jagdtrophäen. Später, als Lear von beiden Töchtern verstoßen ist, irrt mit ihm eine Truppe von Flüchtlingen in löchrigen schwarzen Lumpen mit alten Koffern über die Heide. Am Tiefpunkt der Handlung, als der irre Lear auf den geblendeten Gloucester trifft, zerschneiden zwei Lichtbahnen kreuzweise die dunkle Bühne, im Hintergrund stehen stumm die Exilanten, und der nackte Edgar sieht als armer Tom auf einer schrägen Stange balancierend der trostlosen Begegnung zu. An solchen Stellen gelingt es der Inszenierung, auch dem nur halb verstehenden Zuschauer das zu vermitteln, was der offizielle Optimismus des neuen Slowenien verdeckt: das begriffslose Entsetzen über die Zerstörung eines Gemeinwesens.
In der Nachbarschaft des Krieges, auf der größten Bühne des Landes, hat man keine Angst vor Pathos. Der Rang der Inszenierung zeigt sich darin, daß sie das Leid und die Klage über die verwirrte Welt in verstörende Denkbilder faßt, die mehr sind als nur emotionale Appelle. Vor der Pause liegt Edgar nackt in der Bühnenmitte im Scheinwerferkegel, der Bodenbelag beginnt sich zu bewegen, was fest schien, dreht sich jetzt, ein schwarzes Tuch schürzt sich um die bloße Kreatur herum auf: Sinnbild der Verletzlichkeit des Menschen, des „armen, nackten, gegabelten Tieres“, von dem Shakespeare spricht.
Auch im vierten und fünften Akt, als Shakespeare den Narren längst verabschiedet hat, geistert er in Jovanovics Inszenierung noch als stummer Konferencier des Todes über die Bühne. Sein Gefährt bereitet uns vor auf den Schluß: Es ist ein lautlos rollender Sarg mit schwarzen Blumen. Und dann kommt Lear mit der toten Cordelia in den Armen auf die Bühne. Im Hintergrund steht sein heruntergekommenes Gefolge, die Tänzergruppe imitiert und vervielfacht Lears Gestus des trauernden Tragens, und nach und nach werden die vielen Toten des Stückes in erleuchteten Glassärgen stehend auf die Bühne gefahren. Die Hinterbühne senkt sich ab, vorne bleiben Lear und Cordelia auf einem schmalen Grat in der Höhe über dem Orchestergraben liegen. Lear spricht seine letzten Worte zu einem Trauermarsch, der wie eine Mischung aus Enrico Morricone und Bedrich Smetana klingt: ein Opernfinale voll ungebremster Sentimentalität, eine Gedächtnismesse für die Opfer.
Lear ist das Stück der Stunde – nicht nur in Deutschland. In München, Berlin oder Hamburg kann man Lear mit Distanz, Ironie oder historisierender Sorgfalt spielen. In Ljubljana erscheint Lear als eine Gestalt, die aus der Literatur in die Wirklichkeit entsprungen ist.
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